Libra sollte ursprünglich mit verschiedenen internationalen Währungen gedeckt sein. Das hätte sicherstellen sollen, dass der Wert eines Libras nur gering schwankt. Es hätte sich also um einen Stablecoin mit einem internationalen Währungskorb als Sicherheit gehandelt, den Libra Coin mit dem Kürzel ≋LBR. Es war dieser Währungskorb, den die Regierungen rund um die Welt aufgeschreckt hat. Durch die Einführung einer neuen Währungseinheit hätte nämlich die Position der jeweiligen nationalen Währungen geschwächt werden können vgl. Müller und Lago (2019).

Abkehr vom Währungskorb

In der neusten Ankündigung von Diem ist von diesem Währungskorb nicht mehr viel geblieben. Im Whitepaper 2.0 wird zwar noch immer von einem Multi-Currency-Stablecoin (neu ≋XDX) gesprochen, der über einen Smart Contract algorithmisch mit den nationalen Diem Coins repliziert werden sollte (siehe Box). Aber in der Praxis dürfte dieser auf absehbare Zeit keine Rolle spielen. Nach der neusten Ankündigung ist klar: Das Projekt Diem wird in den USA mit einem US-Dollar Stablecoin (≋USD) starten – auf Euro oder Britische Pfund abgestützte Stablecoins werden bis auf weiteres ebenfalls nicht weiterverfolgt (CNBC 2021; Diem Association 2021).

Was ist ein Smart Contract? 

Im Prinzip ist ein Smart Contract einfach ein Computerprogramm. Die Vertragsbestandteile werden dabei so in einer Programmiersprache ausformuliert, dass der Inhalt des Vertrags zumindest teilweise automatisch abgewickelt werden kann. Mit dem Aufkommen der Blockchain-Technologie haben Smart Contracts eine Renaissance erlebt. Auf den neuen Netzwerken können damit digitale Vermögenswerte vertraglich vordefiniert automatisch alloziert und transformiert werden. In der jüngeren Vergangenheit ist es allerdings auch immer wieder zu Programmierfehler gekommen, bei denen Vermögenswerte vernichtet oder an unberechtigte Parteien transferiert wurden.

Das wirkt sich auf die Gestaltung der Diem Reserve aus. Egal ob damals für Libra oder neu für Diem, die Reserve ist das Kernstück des Währungsprojekt. In Abbildung 4 werden die verschiedenen Reserves anhand ihrer Bilanz illustriert.

Das Ziel der Reserve ist, den Wert des herausgegebenen Stablecoins zu stabilisieren. Mit der Diem Reserve soll also der Wert des ≋USD möglichst stabil an der Referenzwährung, den US-Dollar, gehalten werden. Dafür soll jeder Diem Dollar in Zirkulation mit Bargeld und Bargeld-Äquivalenten in der Reserve gedeckt werden. Mindestens 80% der Reserve soll aus kurzfristigen US-Staatsanleihen bestehen, die weniger als 3 Monate Restlaufzeit haben. Die restlichen 20% der Reserve werden in US-Geldmarktfonds investiert, die ebenfalls in kurzfristige (bis zu einem Jahr Restlaufzeit) US-Staatsanleihen investieren (Libra Association 2020a).

Seit dem zweiten White Paper wurden allerdings die Informationen zur genauen Ausgestaltung der Reserve kaum mehr aktualisiert. Es wurde lediglich mit dem Umzug in die USA verkündet, dass die kalifornische Silvergate Bank die Reserve verwalten wird (Diem Association 2021).[1] Inwiefern die aktuellen Pläne für die Reserve den Plänen aus dem White Paper entsprechen, bleibt unklar.

Vorbereitet auf den nächsten Schritt der Zentralbanken

Der Betrieb der Reserve könnte auch wieder komplett eingestellt werden, wie Catalini kürzlich in einem Interview durchblicken liess (CNBC 2021). Diem hat sogar erklärt, die eigenen Stablecoins durch digitales Zentralbankgeld (Central bank digital currency, CBDC) zu ersetzen, sobald dieses zur Verfügung stehen wird (Coindesk 2021). Je nach Ausgestaltung der CBDC (siehe Box) bräuchte es jedoch weiterhin eine Art Reserve, entweder in der klassischen Form einer Bilanz oder in der algorithmischen Form eines Smart Contract. Diem Coins würden dann wohl eins zu eins mit digitalem Zentralbankgeld gedeckt werden – die Reserve würde einer Narrow Bank entsprechen.

Was steht hinter dem Begriff CBDC?  

CBDC steht für central bank digital currency. Die Abkürzung bezeichnet also eine digitale Form von Zentralbankgeld, das sich von anderen Formen von Zentralbankgeld wie Bargeld und elektronischen Bankreserven unterscheidet. CBDCs verwenden einen elektronischen Datensatz oder einen digitalen Token, um virtuell Geld zu repräsentieren und stellen eine direkte Verbindlichkeit gegenüber der Zentralbank dar. (Ghose et al. 2021; PwC 2021)

Es kann zwischen zwei verschiedenen CBDC-Typen unterschieden werden. Sogenannte Retail CBDC können direkt von Privatkunden und Unternehmen gehalten und verwendet werden – in diesem Fall handelt es sich somit um eine Art digitales Bargeld oder Zahlungsverkehrskonto bei der Zentralbank. Die Wholesale CBDC hingegen können ausschliesslich von Finanzinstituten gehalten werden und für Interbankenzahlungen und Abwicklungsprozesse verwendet werden – der Unterschied zu den heutigen Konten der Geschäftsbanken bei der Zentralbank liegt hier nur in der verwendeten Technologie.

Die Ankündigung Libras im Juni 2019 gilt als Katalysator für CBDC-Projekte rund um den Globus. Trotz früherer Skepsis beschäftigen sich derzeit über 80% aller Zentralbanken mit CBDC. In einer Pilot- oder Entwicklungsphase befinden sich jedoch solche Projekte nur bei 14% aller Zentralbanken (Ghose et al. 2021) – unter diesen Pionieren befindet sich auch die Schweizerische Nationalbank (BIS 2020; SNB 2020).[2]

Bevor CBDC aber das Licht der Welt erblicken, wird die Aktivseite der Bilanz der Diem Reserve wie erwähnt hauptsächlich aus US Treasuries bestehen.[3] Zudem werden auf der Passivseite nicht nur die herausgegebenen Diem Coins stehen.[4] Stattdessen soll die Diem Reserve ein positives Eigenkapital vorweisen. Der Eigenkapitalpuffer soll dabei vor unvorhergesehenen Verlusten infolge Kredit- und Marktrisiken schützen.[5]

Eine klassische Bank im modernen Kleid

Mit dieser Bilanzstruktur ist eines klar: die Diem Reserve wird als klassische Bank starten. Natürlich betreiben heutige Banken eine viel stärkere Fristentransformation. Ihren kurzfristigen Sichteinlagen stehen im Gegensatz zur Diem Reserve nicht kurzlaufende Staatsanleihen, sondern gerade in der Schweiz vor allem langlaufende Hypothekarkredite gegenüber (NZZ 2017). Dessen ungeachtet findet auch bei Diem mit den dreimonatigen US Treasuries eine gewisse Fristentransformation statt. Damit erinnert Diem an die historischen Vorläufer der heutigen Banken. So zeigt die Diem Reserve grosse Ähnlichkeiten mit US-Banken vor der Einführung des Federal Reserve Systems.[6]

Was wie eine Bank aussieht, hat natürlich auch Risiken wie eine Bank. Beispielsweise könnte es zu einem klassischen Bank Run kommen, wenn viele Leute auf einmal ihre Diem Coins in US-Dollar wechseln wollten. In diesem Fall müsste die Diem Reserve rasch Vermögenswerte liquidieren, um die Nachfrage nach US-Dollar bedienen zu können. Wenn dabei die Preise der Vermögenswerte sehr stark unter Druck kämen, könnte das die Diem Reserve in Schieflage bringen.

Deshalb hat Diem bereits angekündigt, Massnahmen zur Risikominimierung zu treffen – und auch da liessen sich die Verantwortlichen von der Geschichte inspirieren. So will Diem einem Bank Run auf die Reserve mit zwei Schlüsselstrategien verlangsamen. Zum einen sollen Rücknahmestopps die Liquidierung der Diem Coins verzögern und der Diem Reserve Zeit für die Liquidierung ihrer Finanzanlagen geben. Zum anderen sollen Rücknahmegebühren im Krisenfall Kunden davon abhalten, ihre Diem Coins in US-Dollars zu wechseln.[7]

Was derzeit noch fehlt, ist eine explizite Lender-of-Last-Resort Garantie des Fed oder eine Versicherung der Diem Coins (analog zur Sichteinlagenversicherung bei Banken). Sollte Diem dereinst eine gewisse Grösse erreichen, wäre aber ein Nicht-Eingreifen der Zentralbank im Krisenfall eine grosse Überraschung.[8]

Um Vertrauen in die Werthaltigkeit des Diem Coins zu schaffen, soll die Zusammensetzung der dahinterliegenden Reserve täglich veröffentlicht und regelmässig durch unabhängige Externe überprüft werden (Libra Association 2020a; OMFIF 2021). Vieles ist hier noch unklar, so beispielsweise die genauen Prüfintervalle. Dessen ungeachtet dürfte Diem hier wohl mit der Transparenz und der (eventuell) verteilten Governance zwischen mehreren Firmen und Nichtregierungsorganisationen punkten – gerade im Vergleich zu Tether, einem der bekanntesten Stablecoin-Projekten (vgl. Box).

Intransparente Stablecoin-Reserven: Fallbeispiel Tether

Knapp 60 Mrd. $ sind in Form des US-Dollar Stablecoins Tether im Umlauf. Damit ist Tether der nach Marktkapitalisierung bedeutendste Stablecoin. Ähnlich zum Diem Dollar versprach Tether ursprünglich, jeden Coin 1:1 mit US-Dollar zu hinterlegen – ein Versprechen, das von verschiedenen Seiten immer wieder angezweifelt wurde. (FT 2021; The New Republic 2021)

Aufgrund regulatorischen Drucks sah sich Tether im Mai 2021 zum ersten Mal gezwungen, detaillierte Angaben zur Zusammensetzung ihrer Reserve öffentlich zu machen. Das publizierte Datenmaterial ist dürftig und nicht extern geprüft, zeigt allerdings, dass Tether weit von einer 1:1 Deckung entfernt ist. Die Zahlen zeigen nämlich, dass lediglich 3% von Tether mit Bargeld, 2% mit Treasuries und 18% mit Treuhandeinlagen hinterlegt sind, wobei auf die Konditionen der Treuhandeinlagen nicht näher eingegangen wird (vgl. Abbildung 5).

Zudem fällt auf, dass die Hälfte von Tether mit nicht weiter spezifizierten «Commercial Papers» hinterlegt ist. Auf diese wird im Report nicht genauer eingegangen, gewisse Marktbeobachter vermuten aber, dass es sich dabei um Kredite an Unternehmen handelt, die Tether nahestehen (Gerard 2021). Schliesslich kann auf der Grundlage der verfügbaren Daten die Eigenkapitalquote von Tether berechnet werden. Diese fällt mit 0,26 % enorm niedrig aus und liegt weit unter den ungewichteten Eigenkapitalquoten (leverage ratio) globaler Grossbanken – Tether ist damit nur kleinste Bewertungsschwankungen von der Insolvenz entfernt.

[1] Die Silvergate Bank tritt in den USA als Partnerin diverser Blockchain-Projekte auf. Zu den Kunden der Silvergate Bank gehören neben institutionellen Investoren unter anderem die Börsen Coinbase, Bitstamp und Binance. Alleinstellungsmerkmal der Silvergate Bank ist das Silvergate Exchange Network (SEN), welches Kunden Transaktionen rund um die Uhr in Echtzeit erlaubt (Silvergate Bank 2021).
[2] Einzelne CBDC-Projekte sind bereits implementiert. Die Bahamas starteten mit einem digitalen Zentralbankgeld namens «Sand Dollar» (The Economist 2021a). Und in China kann seit vergangenem Herbst teilweise mit dem sognannten «e-yuan» (eCNY) bezahlt werden (The Economist 2021b, 2021c).
[3] Sollte der ≋USD dereinst global genutzt werden, würde das einer Art digitale Dollarization entsprechen. Dollarization bezeichnet die Verwendung von US-Dollar als Zahlungsmittel, Wertaufbewahrung oder Rechnungseinheit ausserhalb der USA. Beispiele für diese Währungssubstitution finden sich weltweit, insbesondere in der Sub-Sahara-Region oder in südamerikanischen Ländern. Dollarization kann einem Land zu einer stabilen Währung verhelfen, entzieht den jeweiligen Regierungen aber den Geldschöpfungsgewinn (die Seigniorage), der stattdessen bei der US-Fed anfällt. Zudem wirkt sich die breite Verwendung einer Fremdwährung stark auf den lokalen Finanzsektor und dessen Stabilität aus vgl. (Mecagni et al. 2015). Eine globale Verwendung von ≋USD wäre mit der jetzigen Reserve-Struktur derweil durchaus im Sinne Washingtons. Da die Kryptowährung mit US-Staatsschulden gedeckt ist, verbessert das die Finanzierungskonditionen der USA.
[4] Damit unterscheidet sich die Diem Reserve konzeptionell von einem Money Market Mutual Fund (MMMF), dessen Passivseite nur aus Eigenkapital besteht, dass aber ebenfalls im Wert stabil an den US-Dollar gebunden wird. MMMF gelten traditionell als sichere Anlagen ohne Verlustrisiko. Im Jargon wird von «never breaks the buck» gesprochen – also dass der Nettoinventarwert (NAV) eines Fondsanteils nie unter $1 sinkt. In den Finanzkrise von 2008 standen aber genau diese MMMF mit im Zentrum der Turbulenzen, da der älteste Fonds der USA, der Reserve Primary Fund, dieses Zahlungsversprechen nicht einhalten konnte (NZZ 2008; The Economist 2012).
[5] Man würde vermuten, dass das Eigenkapital zu gleichen Teilen von den Diem-Association-Mitgliedern eingebracht würde. Allerdings ist hier noch vieles unklar vgl. (Eichengreen und Viswanath-Natraj 2020). Auch die angestrebte Eigenkapitalquote wird im White Paper nicht genauer spezifiziert und wird lediglich als «angemessen gross» bezeichnet (Libra Association 2020a).
[6] Amerikanische Banken im 19. Jahrhundert hatten wiederholt mit «Bank Runs» zu kämpfen. Da es im Gegensatz zu heute keine Zentralbank oder Sichteinlagenversicherung gab, reduzierten die Banken die Risiken auf ihrer Bilanz. Sie vergaben vordringlich kurzlaufende Verbindlichkeiten und investierten in Anlagen mit sehr geringem Kredit- und Zinsänderungsrisiko. Langfristige Bankkredite waren damals eine Rarität. Der Louisiana Banking Act von 1842 schrieb gar gesetzlich vor, dass Banken jederzeit Gold und kurzfristige Anlagen (max. 90 Tage) im Wert ihrer Einlagen zu halten hatten (Pennacchi 2012).
[7] Strategien zur Verlangsamung eines „Bank Runs“ finden sich in zahlreichen historischen Beispielen wieder. Die Bank of England hat 1847 beispielweise nur noch eine bestimmte Anzahl Wechsel akzeptiert, um die Nachfrage und damit die Entleerung der Reserve zu bremsen. Zuvor bewies die Bank of England bereits im 18. Jahrhundert Kreativität im Umgang mit der Gefahr eines „Bank Run“. Grosse Geldsummen wurden an Angestellte der Bank ausgezahlt, welche die Geldsäcke Scheinkunden am Eingang der Bank übergaben. Diese wurden dann als erste am Schalter bedient, wobei sich die Kassierer reichlich Zeit beim Zählen des Geldes nahmen. So konnte die Bank durch fiktive Bankgeschäfte Zeit gewinnen und gleichzeitig das Vertrauen in die Bank widerherstellen, da ja offenbar zahlreiche Kunden grosse Geldbeträge einzahlten  (Andreadēs 1924).
[8] Gewisse Ökonomen betonen bei Diem das Fehlen einer expliziten Absicherung im Krisenfall (Eichengreen und Viswanath-Natraj 2020; Mersch 2019). Die Wirtschaftsgeschichte zeigt jedoch, dass ein Versprechen der Zentralbank oder einer Regierung, im Fall eines Bank Runs nicht einzugreifen, nicht glaubwürdig ist; das Versprechen ist zeitinkonsistent. Analytische Modelle zur Zeitinkonsistenz im Bankenwesen sind bei Mailath und Mester (1994), Acharya und Yorulmazer (2007), Farhi und Tirole (2012) und Chari und Kehoe (2013) zu finden. Beispiele von Zentralbankeneingriffe sind mannigfaltig, wie zuletzt das Notkreditprogramm des Fed zur Stabilisierung der in Schieflage geratenen Geldmarktfonds im Jahre 2008 (The New York Times 2008).