«Wir waren extrem naiv.» Das hat Christian Catalini jüngst freimütig zugegeben (CNBC 2021).  Catalini ist Chefökonom des Facebook-Währungsprojekts Diem, das 2019 unter dem Namen Libra mit viel Furore gestartet ist.

Auch in der Schweiz hat das Projekt hohe Wellen geschlagen. Schliesslich wollte Libra von Genf aus mit einem neuen Zahlungssystem die globale Währungsordnung auf den Kopf stellen. Dieser Anspruch stellte sich in der Tat als naiv heraus – die Gegenwehr von Zentralbanken, Regulatoren und Politikern war gewaltig.

Das Währungsprojekt hat mittlerweile eine über zweijährige Achterbahnfahrt hinter sich. Von Anhörungen vor dem US-Kongress über gewichtige Abgänge bei den Gründungsmitgliedern bis zur kompletten Restrukturierung inklusive Sitzwechsel. Die kurze Unternehmensgeschichte Diems ist turbulent. Dessen ungeachtet birgt das Projekt weiterhin grosses Disruptionspotenzial.

Die vorliegende Blogserie liefert deshalb ein umfassendes Update zur Avenir-Suisse-Analyse «Libra, das globale Finanzsystem und die Schweiz» (Müller und Lago 2019). Sie ist in sechs Teile gegliedert:

1. Was bisher geschah

Das neue Währungsprojekt Libra war kaum angekündigt, schon hagelte es Kritik von allen Seiten. Selbst Zentralbanker, die für eine diplomatische und überlegte Wortwahl bekannt sind, reagierten prompt und nahmen kein Blatt vor den Mund. So meinte Jerome Powell, Präsident der US-Notenbank Fed, weniger als ein Monat nach der Lancierung: «Ich glaube nicht, dass das Projekt weitergeführt werden kann» (Reuters 2019a). Powell war damit nicht allein.

Ergibt eine neue, digitale Weltwährung für Unternehmen und Konsumenten Sinn? (Nasa, Unsplash)

Die Bedenken dem neuen Währungsprojekt gegenüber kamen in unterschiedlichster Form. Zum einen waren die Regulatoren beunruhigt bezüglich Wettbewerbskonzentration, Konsumenten- und Datenschutz sowie Finanzstabilitätsrisiken; auch Bedenken bezüglich Geldwäscherei und Terrorismusfinanzierung wurden angebracht. Zum anderen sahen sich die Zentralbanken mit einer Einschränkung ihrer geldpolitischen Instrumente und damit ihrer Handlungsfähigkeit konfrontiert, denn Libra wollte als Währungskorb starten und damit eine neue Geldeinheit etablieren.

Über Sinn und Unsinn der neuen Weltwährung für Unternehmen und Konsumenten wurde bei der ganzen Aufregung kaum diskutiert. Im Vordergrund standen von Anfang an die Risiken. Diese waren zweifelsohne existent, doch die neue Zahlungsart hätte auch Chancen beinhaltet. Schliesslich hätte Libra nicht einfach ein weiterer Krypto-Coin werden sollen. Vielmehr wäre die neue Technologie wohl auch nahtlos in den etablierten Produkten der Gründungsmitglieder eingebaut worden – also in Whatsapp, Instagram, Uber oder Spotify.

Das hätte Online-Zahlungen vereinfachen und vielleicht wegen einer Intensivierung des Wettbewerbs auch die Zahlungsgebühren von Kredit- und Debitkarten unter Druck setzen können. Zudem wären eventuell Mikro-Payments machbarer geworden, was neue Geschäftsmodelle beispielsweise im Medienbereich ermöglicht hätte. Schliesslich brächte eine globale Währung ohne Wechselkurskosten gerade bei grenzüberschreitenden Transaktionen Vorteile für die Nutzer – persönlich kennt wohl jeder die Aufschläge auf der Kreditkartenabrechnung nach den Ferien im Ausland.

Der Politik den Fehdehandschuh hingeworfen

Doch gerade dieser Weltwährungsanspruch war der Politik ein Dorn im Auge. Eine Schwächung der eigenen Währung würde vorderhand mit einem geringeren Geldschöpfungsgewinn (Seigniorage) einhergehen. Auch die Finanzierung von Staatsschulden und damit die gesamte Schuldenmechanik drohte bei einem Erfolg von Libra aus dem Lot zu geraten. Damit forderte das neue Projekt nicht nur die nationalen Währungen heraus, sondern die Handlungsfähigkeit hochverschuldeter Staaten und damit im Endeffekt deren Souveränität – wenn die Macher von Libra eine solche Lesart ihres Projekts nicht antizipiert haben, dann waren sie in der Tat naiv.

Besonders heftig fiel die Reaktion in der EU und in den USA aus. Das darf nicht überraschen. In den beiden gewichtigsten Volkswirtschaften der Welt kommt der eigenen Währung auch eine geopolitische Funktion zu: Das Europäische Projekt steht und fällt mit der Gemeinschaftswährung, dem Euro, und der Dollar ist als globale Reservewährung ein potentes machtpolitisches Instrument der USA.

In einer gemeinsamen Stellungnahme liessen die EU-Finanzminister kurzum verlauten, dass private digitale Währungsprojekte so lange in der EU verboten sein werden, bis deren Risiken angemessen reguliert werden können (Reuters 2019b). Kurz vor dieser Erklärung mussten Libra-Vertreter auch in Washington D.C. antraben. In einer öffentlichen Anhörung wurden sie mit Kritik von Demokraten und Republikanern gleichermassen eingedeckt (CNBC 2019; The Guardian 2019).

In der Schweiz gingen die Gefühle der Verantwortungsträger derweil auf Achterbahnfahrt. Zu Beginn zeigten sich Regulatoren, Politiker und auch die Nationalbank erstaunlich gelassen – offenbar liessen die hochtrabenden Ambitionen von Libra das Land ohne geopolitische Ansprüche kalt. Statt Panik blitzte vielmehr Freude über die Wahl von Genf als Sitz von Libra durch. Das sei eine Chance, so der Konsens, sich als fortschrittlichen und technologiefreundlichen Standort etablieren zu können.

Die anfängliche Euphorie verflog aber schnell. Die hiesigen Behörden gerieten im internationalen Austausch rasch unter Druck. Eine Delegation von amerikanischen Parlamentariern des US House Committee on Financial Services stattete der Schweiz schon im August 2019 einen (Inspektions-) Besuch ab (NZZ 2019a). Bald wurden von den Medien Parallelen zur Steuer- und Bankgeheimnisdiskussionen der vergangenen Jahrzehnte gezogen (NZZ 2019b, 2019c). Die internationale Debatte rund um Libra führte schliesslich dazu, dass Ueli Maurer im Dezember 2019 erklärte: «Die Schweiz kann Libra in der vorliegenden Form nicht bewilligen» (NZZ 2019d).

Aus Libra wird Diem

Auch bei Libra selbst hinterliess der politische Druck seine Spuren. Die Libra Association musste den Ausstieg bedeutender Gründungsmitglieder, darunter Paypal, Visa, Mastercard, Ebay und Vodafone, verkraften (NZZ 2019e). Von den Schwergewichten zu Beginn sind lediglich Spotify, Uber, Lyft und Facebook übriggeblieben. Allerdings ist auch in der vorliegenden Form das Konsortium hinter dem Währungsprojekt noch immer ein ökonomisches Schwergewicht, was beispielsweise ein Vergleich mit den vier grössten Banken der Schweiz oder den beiden bekanntesten Kryptowährungen zeigt (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Auch mit vielen Austritten steht hinter Diem noch immer eine schlagkräftige Organisation

Viele der Gründungsmittglieder haben das Währungsprojekt nach dem politischen Druck verlassen. Dessen ungeachtet erinnert der Vergleich von den vier grössten Schweizer Banken mit Diem noch immer an David gegen Goliath.

Umsatz in Mrd. $
Marktkapitalisierung
in Mrd. $
Ausgewählte Schlüsselzahlen
Facebook
86
945
2’797
Monatlich aktive Nutzer, in Mio (Q4 2020)
Visa
Mastercard
Paypal
Booking
Uber
11
93
93
Monatlich aktive User, in Mio. (Q4 2020)
Vodafone
Ebay
Spotify
8
46
155
Abonnenten, in Mio. (Q4 2020)
Lyft
8
46
155
Abonnenten, in Mio. (Q4 2020)
Iliad
8
46
155
Abonnenten, in Mio. (Q4 2020)
Summe
113
1’109
UBS
32
58
4'187
Verwaltetes Vermögen, in Mrd. $ (Q4 2020)
Credit Suisse
22
26
1’512
Verwaltete Vermögen, in Mrd. $ (Q4 2020)
Raiffeisen
3
224
Verwaltete Vermögen, in Mrd. $ (Q4 2020)
Zürcher Kantonalbank (ZKB)
3
362
Verwaltete Vermögen, in Mrd. $ (Q4 2020)
Summe
60
84
Bitcoin
599
48
24 Stunden Handelsvolumen, in Mrd. $ (08.06.2021)
Ethereum
8
275
41
24 Stunden Handelsvolumen, in Mrd. $ (08.06.2021)
Summe
874
Quelle: siehe Fussnote [1]

Quelle: siehe Fussnote [1]

Nach Diskussionen mit den Regulatoren rund um den Globus präsentierte Libra im April 2020 ein überarbeitetes White Paper (Libra Association 2020a). Wegen der sich damals auf den medialen Höhepunkt zubewegenden Covid-19-Pandemie wurde diese Neuausrichtung und Überarbeitung kaum beachtet. Praktisch zeitgleich reichte Libra bei der Finma zudem ein Gesuch für die Bewilligung als Zahlungssystem ein (Finma 2020; Libra Association 2020b). Im selben Jahr erfolgte auch das grosse Rebranding. Aus Libra wurde Diem und aus dem Wallet Calibra, das als Zugangspunkt zum Libra Netzwerk funktioniert, wurde Novi.

Am 12. Mai 2021 wurde schliesslich eine komplette strategische Neuausrichtung bekanntgegeben. Die Diem Association erklärte, alle Tätigkeiten von Genf nach Washington zu verschieben (Diem Association 2021). Das Gesuch bei der Finma wurde zurückgezogen, obwohl angeblich nur noch wenige Schritte zur Zulassung fehlten (Finma 2021; SRF 2021). Diem scheint sich damit strategisch komplett neu auszurichten. Das Projekt soll ausschliesslich in den USA starten und exklusiv auf den US-Dollar abgestützt sein. Die grundlegende Architektur des Projekts ist aber immer noch nahe an den ursprünglichen Plänen, wie der nächste Beitrag dieser Blogserie zeigen wird.

[1] Für die Umsatzzahlen 2020 und der Schlüsselzahlen vgl. (Credit Suisse 2021; Facebook 2021; Iliad 2021; Lyft 2021; Raiffeisen 2021; Spotify 2021; Uber 2021; UBS 2021; ZKB 2021), die Marktkapitalisierung der Unternehmen (Stand 08.06.2021) beruht auf (yahoo! fiance 2021) und die Daten der Kryptowährungen (Stand 08.06.2021) auf (CoinMarketCap 2021a).