In der Schweiz hat man keine Berührungsängste, die Grundlagen des Staates zu verändern. Seit Inkrafttreten der totalrevidierten Bundesverfassung 1999 gab es bereits 35 Änderungen. Bei der technischen Weiterentwicklung der direktdemokratischen Instrumente tut man sich hingegen schwer. In der medialen Öffentlichkeit sind die Meinungen bezüglich E-Voting aufgrund vergangener Vorkommnisse gemacht.

Das von der Post betriebene System scheint nach gefundenen Mängeln diskreditiert, obwohl es eigentlich Ziel dieses Tests war, allfällige Problemstellen zu finden.

Zangengeburt briefliche Stimmabgabe

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Auch die Einführung der brieflichen Stimmabgabe ging nicht ohne scharfe Auseinandersetzungen vonstatten. Schon Mitte der 1930er Jahre wollte der damalige Bundeskanzler die postalische Stimmabgabe ermöglichen. Das Parlament trat aus Angst um das Stimmgeheimnis und die politische Kultur nicht einmal auf dieses Geschäft ein. Es sollten noch weitere 60 Jahre verstreichen, bis die briefliche Stimmabgabe 1994 anerkannt wurde. Heute ist der Gang zum Briefkasten mit Abstand der bei den Schweizern beliebteste Weg zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte. Über 80 Prozent aller Stimmabgaben werden so übermittelt. Dank dieser Massnahme konnte die im 20. Jahrhundert stetig sinkende Stimmbeteiligung nach der Jahrtausendwende aufgefangen werden. Die technischen Hürden für eine Stimmabgabe zu senken, ist grundsätzlich begrüssenswert. Und es ist im Sinn der Demokratie, dass sich möglichst viele Stimmberechtigte an Abstimmungen und Wahlen beteiligen. Nur so erhalten die gefassten Beschlüsse ihre Legitimität.

Entsprechend müssen auch die jüngeren Generationen für die politischen Abläufe gewonnen werden – namentlich Jahrgänge, die nach der Etablierung des Internets geboren wurden und die heute vorwiegend digital kommunizieren. Sogar Versicherungen beantworten inzwischen mehr Anfragen per E-Mail als über den klassischen Briefwechsel, von anderen Branchen ganz zu schweigen. Seit Jahren befördert die Post immer weniger Briefe. Es erstaunt deshalb nicht, dass sie sich mit dem Angebot einer Plattform zur Durchführung von Wahlen und Abstimmungen ein neues Tätigkeitsfeld erschliessen möchte.

Abstimmen wie anno dazumal entspricht immer weniger der heutigen Lebensrealität. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Die Lebensgewohnheiten der Menschen ändern sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Technologien. Das politisch administrative System sollte diesen wechselnden Bedürfnissen Rechnung tragen. Deswegen muss man nicht der Illusion erliegen, dass E-Voting die Stimmbeteiligung in ungeahnte Höhen schraubt. Diese hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Sicher aber können neue Technologien das Wählen oder Abstimmen etwa für Menschen mit Behinderungen erleichtern.

Qualitätssicherung durch E-Voting

E-Voting kann auch einen Beitrag an die Qualität der Demokratie leisten, verstanden als die tatsächliche Möglichkeit der Einflussnahme. Als bei den Gemeinderatswahlen 2018 in Zürich fast die Hälfte der eingegangenen Wahlzettel aus dem Wahlkreis Schwamendingen für ungültig erklärt werden musste, hat das Beklommenheit ausgelöst. Offenbar waren viele Bürger gewillt, aber nicht in der Lage, ihre Präferenzen klar zu bekunden. Könnten diese mangelhaften Wahlzettel in Zukunft eindeutig ausgelegt werden, wäre das ein Gewinn für die Demokratie. Den ungültigen Wahlzettel gibt es in der digitalen Welt nicht.

Es ist richtig, dem Thema Sicherheit Vorrang zu geben. Bei aller Kritik aber ist ein Denkverbot die falsche Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, und es kommt einer Überhöhung der analogen Abstimmungskanäle gleich. Nicht vergessen werden sollte, dass Estland seit längerem gute Erfahrungen mit seinem E-Voting-System sammelt. Die direkte Demokratie braucht geeignete Instrumente, um sie den Bedürfnissen auch kommender Generationen anzupassen. Verglichen mit dem 60 Jahre dauernden Anlauf für die briefliche Stimmabgabe geht es beim E-Voting hoffentlich schneller. Notabene: Bei der erstmaligen Bereitstellung von E-Voting für Auslandschweizer nutzte bereits die Mehrheit diesen Abstimmungskanal.

Dieser Beitrag ist am 4. Mai in den AZ-Medien erschienen.