Unterschiede in der kantonalen und regionalen Politikgestaltung sowie variierende Wirtschaftsstrukturen und Bevölkerungsgrössen charakterisieren den Schweizer Föderalismus. Die Confoederatio helvetica bedeutet also keineswegs 26 kongruente kantonale Lösungsansätze und Denkweisen. Dass die Schweiz seit dem Hochmittelalter «in wechselnden Formen ihre Eigenart als ein Bund ländlicher und städtischer Republiken bewahrt hat», stellte schon der bedeutende Schweizer Historiker J.R. von Salis in seinem Werk «Weltgeschichte der neusten Zeit» fest. Gelebte Differenz statt Uniformität oder gar zentrale Gleichmacherei: Der Schweizer Föderalismus als staatlicher Organismus kann sich nur erfolgreich weiterentwickeln, wenn er Unterschiede zulässt. Zu unserem föderalistisch geprägten Staatsverständnis mit der freiwilligen Kooperation historisch gewachsener kantonaler Kulturen mit ihren eigenen Sensitivitäten, den vier Landessprachen und den vielfältigen Konfessionszugehörigkeiten gehört auch die liebevolle Pflege von Vorurteilen über die jeweils anderen, bisweilen als fremd empfundenen Landesteile.

Überlieferte Zerrbilder

Diese Vorurteile sind oft Zerrbilder, von Generation zu Generation überliefert, und sie stimmen wenig mit den heutigen sozialen, politischen und ökonomischen Realitäten überein. Damit der systemimmanente föderale Wettbewerbsgedanke aber erfolgreich gedeihen kann, sind nicht die Vorurteile genüsslich zu pflegen, sondern die jeweils anderen Landesteile à fond kennenzulernen. Das heisst aber auch, dass die Sprachbarrieren, diese bis heute real existierenden linguistischen Grenzen zwischen den Landesteilen, konsequent zu überschreiten sind.

Im Forschungslabor Schweiz kann nur erfolgreich gearbeitet werden, wenn man aus Deutschschweizer Warte die Landsleute auf der anderen Seite der Sarine nicht alleine als Bonvivants betrachtet oder diesen heute prosperierenden Landesteil gar mit einem Mittelmeerland vergleicht, dass noch vor wenigen Jahren eine veritable Finanz- und Wirtschaftskrise zu meistern hatte. Letzteres beweist eigentlich nur, dass die Verfasser von derartigen realitätsfernen Beschreibungen über die Romandie wenig Einsichten besitzen und – was noch schlimmer wiegt – offensichtlich nicht bereit sind, sich zuerst die fundamentalen Grundkenntnisse über die unterschiedlichsten föderalen Ausprägungen unseres Landes anzueignen. Zugleich sollte den Deutschschweizern und vorab den zwinglianisch geprägten Zürchern zu denken geben, dass auch eine gelebte Bonvivant-Kultur wie in der Romandie und insbesondere am Arc lémanique zu einer eindrücklichen wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte führen kann – eine Erfolgsgeschichte, die in vielen Bereichen durchaus «Best Practice»-Charakter für die übrige Schweiz hat.

Weiter Horizont am Genfersee. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Innovation, Pragmatismus und Bereitschaft zur Kooperation

Gerade der Kanton Waadt hat seit den 1990er Jahren eine beeindruckende Performance an den Tag gelegt. Nach einer veritablen Wirtschaftskrise, geprägt von einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit, präsentiert sich heute der drittgrösste Kanton der Schweiz breit diversifiziert und von einer bemerkenswerten Resilienz. Zusammen mit dem Nachbarkanton Genf konnte ein Exzellenznetzwerk im Hochschulwesen entlang des Arc lémanique etabliert werden, das schweizweit seinesgleichen sucht.

Die daraus hervorgehende Dynamik hat sich auch wirtschaftlich niedergeschlagen: doppelt so viel Kapital für Start-ups als in Zürich und eine rapide Zunahme der Standortattraktivität für global tätige Unternehmen. Die Innovationskraft des Wissensclusters führt konsequenterweise zu mehr Beschäftigten in wachstumsstarken Branchen als im Schweizer Durchschnitt. Finanz- und steuerpolitisch wissen die Verantwortungsträger im öffentlichen Sektor die Vorteile des Fiskalföderalismus oft gezielter zu nutzen als ihre Deutschschweizer Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die Steuerausschöpfungsquote aus liberaler Sicht zu hoch ist. Während «Zürich» als die führende Wirtschaftslokomotive auf der anderen Seite der Sarine aufgrund eines Verdikts des kantonalen Souveräns seine Pauschalbesteuerungsregelungen abschaffen musste, erfolgen im Château Saint-Maire, dem Sitz der Waadtländer Regierung, und im Genfer Hôtel de Ville die Steuerpraktiken oft pragmatischer.

Und während über den Fiskalföderalismus und die Höhe der Steuertarife in der Deutschschweiz ideologisch heftig gestritten wird, zeichnet sich die politische Diskussion am Arc lémanique mehr durch die «rondeur» aus, diese Fähigkeit mit dem Willen, über die verschiedenen politischen Lager hinweg einen Sinn für den Mittelweg, für den Ausgleich, zu finden.

Blick über die Sprachgrenzen hinaus

Der ausgeprägte multinationale Charakter der Wirtschaftsstruktur, die Präsenz zahlreicher internationaler Organisationen und das Renommee der Bildungs- und Forschungseinrichtungen hängt wohl auch mit der besonderen geografischen Lage zusammen. Wer am Zürich- oder am Brienzersee wohnt, hat zwar ebenfalls einen Blick auf blau schimmernde Wasserflächen, sieht aber auf der anderen Seite bei günstiger Wetterlage allenfalls die Bergmassive der Innerschweiz und der Berner Alpen. Wer dagegen am Genfersee aufwachse, der könne nicht anders, als sich als Teil Europas zu sehen, sagte einst der legendäre freisinnige Waadtländer Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz. Folgerichtig findet sich die Büste des ehemaligen Schwei-zer Wirtschafts- und Verteidigungsministers am Seeufer von Ouchy, unweit jener Stelle, wo die Kursschiffe nach Frankreich ablegen. Entsprechend ist die Einbindung in die europäische Forschungszusammenarbeit für den Hochschulraum entlang dem Genfersee äusserst bedeutend – noch bedeutender als in der Deutschschweiz.

Aktuelle politische Initiativen auf Bundesebene, die die internationale Tätigkeit der Schweizer Unternehmen mit neuen Regeln einschränken wollen und bisher gewährleistete Marktzugänge zu wichtigen Handelspartnern direkt tangieren, würden nicht nur das globale Handelszentrum Genf, sondern auch die unzähligen, international ausgerichteten Unternehmen entlang des Arc lémanique direkt treffen.

Die Deutschschweiz verfügt mit Zürich und Basel über starke Wirtschaftslokomotiven mit ähnlich globaler Ausrichtung. Doch das sollte die Verantwortungsträgerinnen und -träger der Romandie, die mit ihren globalisierten und europäisierten wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten heute den Erfolg des Arc lémanique ausmachen und wichtiger Teil der Schweizer Erfolgsgeschichte sind, nicht daran hindern, sich auch in der Deutschschweiz vermehrt Gehör zu verschaffen. Der Lerntransfer zwischen den Landesteilen sollte noch mehr Teil unseres föderalen Staatsverständnisses werden.

Dieser Beitrag wurde erstmals in der Publikation «Einzigartige Dynamik des Arc lémanique» publiziert.