Ende 2016 ging nach 17 Jahren Bauzeit der Gotthard-Basistunnel in Betrieb, mit 57 km der längste Bahntunnel der Welt. Er kostete 12,2 Mrd. Fr. – die Anschlussinfrastruktur wie den 2020 zu eröffnenden Ceneri-Basistunnel (1,2 Mrd. Fr.) nicht mitgerechnet. Im gleichen Jahr bewilligte das Schweizer Stimmvolk auch die Sanierung des Gotthard-Strassentunnels (mit 17 km der längste des Landes) und den Bau einer zweiten Röhre für geschätzte Gesamtkosten in Höhe von 2,8 Mrd. Fr.
Summa summarum werden am Gotthard an die 20 Mrd. Fr. verbaut. Diese Jahrhundertinvestitionen versorgen die regionale Baubranche über zwei Generationen hinweg mit lukrativen Aufträgen. Das alleine reicht jedoch nicht. Damit sich diese neuen Infrastrukturen von europäischer Bedeutung auch volkswirtschaftlich rechnen, sind die Akteure im Tessin gefordert, sie als Katalysatoren für die regionale Entwicklung zu nutzen. Dafür gibt es vier Stossrichtungen.
Nähe zu den Zentren
Mit Vollendung der Neat-Bauten rückt das Tessin an die Wirtschaftszentren des Schweizer Mittellandes und Norditaliens heran. Bis 2020 verkürzt sich die Fahrzeit von Zürich nach Lugano auf knapp zwei, von Zürich nach Mailand auf knapp drei Stunden. Die Tessiner Unternehmen erhalten dadurch die Chance, neue Kunden zu gewinnen. Den Standortförderern dürfte es leichter fallen, neue Investoren anzuwerben. Und die Kantonspolitik bekommt die Chance, die Rahmenbedingungen für die lokale Wirtschaft auf Aktivitäten mit höherer Wertschöpfung auszurichten.
Belebung des Tourismus
Die vormals florierende Tourismusbranche hat seit den frühen 1990er Jahren einen dramatischen Niedergang erlebt. Im Verlauf von 25 Jahren nahmen die Übernachtungen um einen Viertel ab. Erst seit kurzem sind wieder Wachstumstendenzen zu erkennen. Die Neat bietet nun die Chance für ein nachhaltiges Comeback, zumal vor Ort wichtige Hausaufgaben gemacht wurden: Das neue Tourismusgesetz, die Fusion regionaler Vermarktungsorganisationen (aus 10 wurden 4), die Stärkung der neu aufgestellten Tessiner Tourismusagentur und die Aktion «Ticino Ticket» sind ermutigende Anzeichen der Erneuerung.
Einkommensquelle Transit
Das Tessin liegt am transeuropäischen Verkehrskorridor Genua-Rotterdam, und ein grosser Teil des Warenaustauschs zwischen Italien und Nordeuropa fliesst über diese Route. Mit den massiven Investitionen auf der Gotthardachse wird diese Verkehrsverbindung sukzessive aufgewertet. Die Tessiner Wirtschaft und die Politik haben es in der Hand, aus der Transitfunktion mehr Kapital zu schlagen – nicht nur als Logistikstandort, sondern generell als Wirtschaftsdrehscheibe zwischen Italien und dem Europa nördlich der Alpen. Dafür müssten entsprechende Standortqualitäten gestärkt und Geschäftsmodelle entwickelt werden.
Kürzere Wege im Kanton
Spätestens ab 2020 werden sich auch die Reisezeiten innerhalb des Südkantons drastisch verkürzen. Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels halbiert sich die zeitliche Distanz zwischen Lugano und Locarno auf nur noch 22 Minuten – die Neat wird zur Tessiner S-Bahn. Die kleineren Städte des Tessins werden verkehrstechnisch zu einer Grossagglomeration zusammenwachsen. Diese Entwicklung gilt es, durch geeignete raumplanerische Rahmenbedingungen, städtebauliche Massnahmen und eine systematischere Kooperation zwischen den beteiligten Städten und Gemeinden zu unterstützen.
All dies zeigt, dass die Milliardeninvestitionen in die Verkehrsinfrastruktur am Gotthard weit mehr sind als ein warmer Regen für die lokale Bauindustrie. Sie könnten den Auftakt sein für eine umfassende Verjüngungs- und Revitalisierungskur des Wirtschaftsstandorts Tessin. Davor müssen aber noch zahlreiche Hausaufgaben gemacht, Reformen umgesetzt und Strategien entwickelt werden. Einiges davon wurde bereits angepackt, anderes bleibt noch zu tun.
Dieser Beitrag ist in «avenir spezial» zum Tessin vom Dezember 2017 erschienen.