Nachdem ein nationaler Mindestlohn 2014 an der Urne scheiterte, entdeckten dessen Befürworter den Föderalismus. In diversen Kantonen und vereinzelt sogar auf kommunaler Ebene wurden Mindestlohn-Initiativen lanciert. Inzwischen kennen fünf Kantone einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Lohnpolitik – über lange Zeit ein Primat der Sozialpartner – verschiebt sich auf die staatliche Ebene. Fast zwangsläufig schaffen die kantonalen Mindestlöhne damit Konflikte mit den Gesamtarbeitsverträgen (GAV), die üblicherweise die Mindestlöhne hierzulande regeln. Die Kantone Jura, Tessin und Basel-Stadt räumen wenigstens den Regelungen in den allgemeinverbindlich erklärten GAV den Vorrang gegenüber dem jeweiligen Mindestlohn ein. Die Kantone Genf und Neuenburg weichen hingegen auch von dieser Lösung ab. Hier unterstehen selbst Personen, deren minimale Entschädigung durch allgemeinverbindliche GAV geregelt ist, den kantonalen Bestimmungen.

Dieses Vorrecht kantonaler Mindestlöhne soll nun aber politisch gekippt werden. In der kommenden Woche debattiert der Nationalrat als Zweitrat eine Motion, die den Lohnbestimmungen der schweizweit gültigen GAV zwingenden Vorrang vor den kantonalen Mindestlöhnen einräumen will. Nicht zu Unrecht sehen die Motionäre in den kantonalen Mindestlöhnen eine Gefahr für die Sozialpartnerschaft, die hierzulande für den sozialen Frieden eine bedeutende Rolle spielt. Die GAV erlauben eine flexible, branchen- und regionsspezifische Abstimmung der Arbeitsbedingungen. In diesem System führen zusätzliche und starre kantonale Lohnuntergrenzen zu (überregionaler) Rechtsunsicherheit. Ganz abgesehen von der Gefahr negativer Beschäftigungseffekte: Mindestlöhne können gerade Jüngeren, Müttern oder Flüchtlingen den (Wieder-) Einstieg in den Arbeitsmarkt erschweren.

Von wem hängt die Höhe seines Lohns ab? In den meisten Fällen weder vom kantonalen Mindestlohn noch vom GAV. (Ricardo Gomez, Unsplash)

Demokratisch legitimierte Lohndiktate

Kantonale Mindestlöhne stellen staatliche Lohndiktate dar – sie sind jedoch innerhalb eines Kantons demokratisch legitimiert. Dem Stimmvolk ist es nicht verboten, den liberalen Arbeitsmarkt einzuschränken und allenfalls sogar selbstschädigende Entscheide zu fällen. Insofern haftet der ständerätlichen Motion ein demokratiepolitischer und föderalistischer Makel an. Es wäre verfehlt, kantonale Bestimmungen via Bundesvorgaben zu übergehen und damit sowohl den Volkswillen in den Kantonen als auch die Souveränität der Stände zu missachten. Dabei überrascht, dass ausgerechnet in der kleinen Kammer – also der Kantonsvertretung – eine Mehrheit den Bundesbeschlüssen ein höheres Gewicht beimessen will. Immerhin fehlt der vom Bundesrat angeordneten Allgemeinverbindlichkeit eines privatrechtlich vereinbarten GAV die demokratische Legitimation eines kantonalen Mindestlohnes. Allgemeinverbindliche GAV stellen keine Bundesgesetze dar. Hinzu kommt, dass die Allgemeinverbindlichkeit auf weitgehend intransparenten Institutionen (tripartite Kommissionen) und Entscheidungsprozessen beruht. 

Was stattdessen zu diskutieren wäre …

Die bürgerlichen Kritiker sollten sich vielmehr darum bemühen, die Allgemeinverbindlichkeit generell zurückhaltender einzusetzen und damit gar nicht erst branchenweite Lohndiktate und Marktzutrittsbarrieren staatlich zu verordnen. Die Zahl der Arbeitnehmenden, die einem allgemeinverbindlichen GAV unterstellt sind, hat sich nämlich zwischen 2003 und 2018 auf fast eine Million verdreifacht. Die Debatte um die Vorrangstellung vernebelt zudem die zugrundeliegende Frage nach der Richtigkeit der bestehenden Kompetenzordnung. So hat das Bundesgericht in einem wegweisenden Urteil den Neuenburger Mindestlohn im Rahmen der sozialpolitischen Kompetenz des Kantons gutgeheissen. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Urteil aus ökonomischer und sozialpolitischer Sicht zumindest streitbar ist. 

… und warum kantonale Mindestlöhne für die politische Linke zum Bumerang werden könnten

Wie Avenir Suisse in einer neuen Publikation zeigt, taugen Mindestlöhne in der Schweiz nur sehr beschränkt zur Armutsbekämpfung. Weder erübrigt sich damit automatisch der Gang zum Sozialamt, noch lebt eine Mehrheit der Tieflohnbezüger effektiv in einem Working-Poor-Haushalt. Auch deshalb tun die betroffenen Kantone gut daran, die Vorrangstellung der kantonalen Mindestlöhne nochmals zu überdenken. Letztere sind zwar oftmals tiefer angesetzt als die GAV-Mindestlöhne. Aber es geht in dieser Angelegenheit um weit Grundsätzlicheres, nämlich um die Bedeutung der Sozialpartnerschaft und die Frage, wer sich für die Lohnpolitik in der Schweiz primär verantwortlich zeigt. Zudem: Nicht nur die Befürworter der Motion, sondern auch die politische Linke riskiert mit ihrer zweigleisigen Strategie, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wo kantonale Mindestlöhne bestehen, dürfte die Bereitschaft für kollektive Lohnverhandlungen sinken. Damit könnten die GAV an Bedeutung verlieren – und mit ihnen auch der gewerkschaftliche Einfluss.

Die Debatte um kantonale Mindestlöhne reiht sich derweil ein in eine Serie von Bestrebungen, den Lohnschutz zu verschärfen. Dazu besteht indes keine Notwendigkeit. Im Gegenteil: Der noch effizient funktionierende Arbeitsmarkt sollte nicht mit staatlichem Protektionismus und ausufernder Bürokratie geschwächt werden. Wo die Kantone aber – im Rahmen ihrer durchaus streitbaren Kompetenz – beim Lohnschutz autonom handeln wollen, sollen sie dies tun können. In einem föderalen Land muss man dies aushalten. Es gilt dann aber auch, die damit einhergehenden arbeitsmarktlichen und allenfalls staatspolitischen Konsequenzen zu tragen.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in der Studie «Wen schützt der Lohnschutz?».