Elf Jahre lang amtete Peter Grünenfelder als Staatsschreiber des Kantons Aargau, seit März nun ist er Direktor des Think Tanks Avenir Suisse. In den ersten Wochen informierte er sich bei Denkfabriken in den USA und Europa über das Handwerk von führenden Think Tanks. Nach seiner Rückkehr hat er zunächst Avenir Suisse reorganisiert – und sich anschliessend zusammen mit seinem Team ein ambitiöses liberales Programm für Wachstum und Wohlstand zurechtgelegt. Wir treffen den 49-Jährigen in den Räumlichkeiten von Avenir Suisse in einem Zürcher Aussenquartier zu seinem ersten grösseren Interview.
Aargauer Zeitung: Was macht eigentlich der Chef einer Denkfabrik, ausser denken?
Peter Grünenfelder: (Lacht.) Bei Avenir Suisse nehmen wir die Rolle von Vordenkern ein. Wir antizipieren Entwicklungen, ordnen diese in längerfristige Zeiträume ein. Dabei denken wir über marktwirtschaftliche Modernisierungsansätze nach, damit auch in Zukunft der Wohlstand für breite Kreise der Bevölkerung erhalten werden kann. Gleichzeitig müssen wir so kommunizieren, dass unsere Reformvorschläge in die Diskussionen einfliessen und Wirkung erzielen.
Haben die Vordenker von Avenir Suisse den Brexit kommen sehen?
Die Tendenz zu Renationalisierungen und den Versuch, das Rad der Globalisierung zurückzudrehen, beobachten wir schon seit längerem. In diesem Kontext ist der Entscheid zu Brexit einzuordnen.
Was bedeutet der Brexit für Europa?
Persönlich bedaure ich diesen Entscheid sehr, schwächt er doch die wirtschaftliche Stellung von Gesamteuropa. Bis auf weiteres wird sich die EU mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs und sich selbst beschäftigen. Aufgrund der institutionellen und politischen Instabilität wird auch eine wirtschaftliche Unsicherheit eintreten – das ist für das Investitionsklima alles andere als förderlich.
Was heisst das für die Schweiz?
Wir müssen davon ausgehen, dass Schweizer Anliegen auf der europäischen Prioritätenliste noch weiter absteigen werden. Die Phase der Unsicherheit trifft damit direkt auch unser Land. Da die EU alles daransetzen wird, den Brexit-Virus nicht weiter ausbreiten zu lassen und Nachahmer abzuschrecken, ist nicht mit Sonderprivilegien für unser Land zu rechnen – entsprechend sind auch keine Zugeständnisse in der Zuwanderungsfrage zu erwarten.
Viele hoffen das Gegenteil: dass die EU ihren Mitgliedern mehr Autonomie gibt und damit die Schweiz eine bessere Ausgangslage hat.
Ganz klar nein. Weil Europa mit sich selber beschäftigt ist, ist es äusserst herausfordernd, die Masseneinwanderungsinitiative fristgerecht und im Einvernehmen mit der EU umzusetzen. Wer jetzt aber die unilaterale, einseitige Umsetzung durch die Schweiz fordert, spielt mit dem Feuer, riskiert die Kündigung der Bilateralen und setzt damit den Schweizer Unternehmens- und Arbeitsplatzstandort erheblichen Risiken aus. Und wer insgeheim auf ein Auseinanderfallen der EU hofft, verkennt die ökonomischen Zusammenhänge und ist geschichtsblind!
Wie aber lösen wir dann unser Dilemma mit der EU?
Die Schweiz muss den Zuwanderungssog vor allem innenpolitisch dämpfen, etwa durch flexiblere Altersrücktritte oder durch bessere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Die Personenfreizügigkeit selbst ist im Kern unbedingt zu erhalten, sie liegt im Interesse unseres Landes. Kontingente führen zu einem politischen Verteilkampf und zu schädlicher Strukturerhaltung. Auch ein Inländervorrang ist nicht sinnvoll, dem Staat und den Unternehmen würde er hohe Bürokratiekosten auferlegen. Ein nüchterner Blick tut not – und weniger Ideologie. Zur Erinnerung: Sieben der zehn grössten Handelspartner der Schweiz sind europäische Länder.
Und doch hat es vor zwei Jahren nicht für ein Nein zur Masseneinwanderungsinitiative gereicht.
Ich hoffe sehr, dass wir den Bilateralismus aufrechterhalten können. Aber ja, auch wir sehen, wie dieser bilaterale Weg von gewissen Kreisen nach Kräften unterminiert wird. Was dann folgen würde, wäre der Postbilateralismus.
«Postbilateralismus» heisst?
Das darf keinesfalls neue Mauern bedeuten – weder mental noch aussenwirtschaftspolitisch. Denn sonst wäre der Schweizer Wohlstand für breite Kreise der Bevölkerung nachhaltig gefährdet. Fielen die Bilateralen I weg, würde das BIP in den nächsten 20 Jahren um 460 Mrd. Fr. weniger wachsen, mit spürbaren Lohneinbussen bei Herrn und Frau Schweizer. Wollen wir aber den Wohlstand erhalten, brauchen wir auch in Zukunft Zugang zu den Absatzmärkten. Würde der bilaterale Erfolgsweg tatsächlich gestoppt, könnte dies die Schweiz näher an Europa bringen, als es sich die Gegner des Bilateralismus ausmalen.
«Postbilateralismus» bedeutet EU-Beitritt?
Auch die EU wird sich weiterentwickeln – nur schon aufgrund des Brexit-Verdikts. Der Postbilateralismus – wenn es denn so weit kommt – dürfte letztlich dazu führen, dass wir uns Europa eher annähern. Dabei gibt es verschiedene Stufen, wie man sich zu Europa stellt – etwa mit einer tiefen ökonomischen Integration und einer differenzierten politischen Integration. Damit könnte die Schweiz ihr ungeklärtes Verhältnis zu Europa nachhaltig regeln.
Sie wollen mit Avenir Suisse Vordenker sein. Wie denkt es sich vor? Sie setzen sich alle an einen Tisch und sagen: Was sind die Probleme?
Wir stehen in einem regelmässigen Kontakt mit den Vertretern aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien. Bei der konkreten Arbeit steht am Anfang die Analyse. Nehmen wir die demografische Entwicklung: Seit der Einführung der AHV 1948 hat sich die Lebenserwartung im Pensionsalter verdoppelt. Wir betrachten zunächst die Lösungsansätze in der aktuellen Politik und kommen zum Schluss: Diese Ansätze gehen zu wenig weit – auch mit der aktuellen Reform AHV 2020 würde immer noch eine untragbare Finanzierungslücke von über 82 Prozent des BIP bestehen. Dann analysieren wir, ob es erfolgreich realisierte Reformen gibt, und stellen fest, dass 18 von 34 OECD-Staaten bereits weitgehende Reformen an die Hand genommen haben. Daraus entwickeln wir unsere eigenen Vorschläge.
Etwas mehr Silicon-Valley-Charme hätten wir uns von Ihren Räumlichkeiten schon erhofft. Und einen libertären Freak haben wir auch noch nicht gesichtet. Es ist alles eine Spur zu aufgeräumt hier.
Im tiefsten Inneren haben wir hier alle progressive Denkansätze. Unsere Aufgabe ist es, Handlungsbedarf zu orten und manchmal auch radikale Reformvorschläge einzubringen. Das wird in der Öffentlichkeit manchmal als Provokation empfunden, unsere Vorschläge erfolgen aber immer auf konstruktiver Basis, denn sie müssen mittelfristig machbar sein. Wir konzentrieren uns auf die wichtigsten Prosperitätsgeneratoren der Schweiz und legen dar, wie diese sich in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren weiterentwickeln müssen.
Unter Ihrem Vorgänger Gerhard Schwarz hatte Avenir Suisse ein etwas verstaubtes, in jedem Fall sehr abgehobenes Image. Was machen Sie, um davon wegzukommen?
Mich persönlich stört es nicht, wenn unsere Ideen am Stammtisch und in Meinungsforen der Zeitungen heftig diskutiert werden. Wollen wir als Think Tank erfolgreich sein, müssen wir uns einer verständlichen Sprache bedienen. Das ökonomische Fundament unserer progressiven Denkmodelle versuchen wir so verständlich zu formulieren, dass sie in der Öffentlichkeit breit diskutiert werden können. Dazu gehört auch die Ausweitung auf neue Zielgruppen wie etwa die Lancierung von «Avenir Jeunesse». Auch den Bereich Social Media weiten wir stark aus.
Sprechen wir über Probleme des Landes. Was ist mit der erwähnten AHV zu tun?
Die aktuelle Rentenreform – die AHV 2020 – geht zu wenig weit. Es braucht eine Schuldenbremse bei der AHV, die Entpolitisierung des Umwandlungssatzes in der Pensionskasse und die Einführung eines individuellen Pflegekapitals. Vordringlich ist aber die Flexibilisierung des Rentenalters.
Der Punkt ist doch: Die Leute wollen nicht länger arbeiten, und deshalb gibt es dafür keine Mehrheit an der Urne.
Es geht nicht um starre Altersgrenzen. Man kann sich früher pensionieren lassen, mit entsprechenden Kürzungen bei den Renten. Schauen Sie nach Schweden, das bei uns als sozialer Musterstaat gilt. Schweden hat das Regelrentenalter schlicht abgeschafft, die Menschen sollen selbst entscheiden, wann sie zurücktreten wollen. Es ist die Aufgabe von Avenir Suisse, mehr Fakten in die Diskussion hineinzubringen. Wir müssen über den nationalen Tellerrand hinausschauen. Und wir müssen aufzeigen, dass die Sozialkosten in den nächsten Jahren sonst den grössten Teil der öffentlichen Ausgaben ausmachen und die kommende Generation über Gebühr belasten werden.
Der Stimmbürger ist schlicht zu dumm?
Das hat doch nichts mit Dummheit zu tun! Wir müssen unsere Reformvorschläge zuerst mit Daten und Fakten ins öffentliche Bewusstsein bringen, bevor wir über neue Lösungen sprechen. Ein Beispiel aus den Kantonen, Stichwort Pflegekosten: Wenn man bloss so gut arbeiten würde wie der Durchschnitt aller Kantone, könnte man bei den Pflegekosten jährlich 1.9 Milliarden Franken einsparen. Geld, das etwa in die Bildung investiert werden könnte.
Da wir beim Stichwort sind: Der Nationalrat hat beschlossen, das Ausgabenwachstum für Bildung und Forschung zu drosseln.
Gleichzeitig hat er sich gegenüber den Bauern sehr grosszügig gezeigt. Kein anderer OECD-Staat unterstützt die Landwirtschaft stärker als die Schweiz. Rund 63 Prozent des bäuerlichen Einkommens stammen vom Staat, das sind über 44’000 Franken pro Vollzeit-Arbeitsplatz in der Landwirtschaft! Eine Investition in eine ETH-Professur im Hochtechnologiebereich brächte für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes mehr als neue Subventionen für die Agrarwirtschaft. Wir haben heute eine zweigeteilte Wirtschaft: eine hochproduktive Exportwirtschaft und der teilweise geschützte Binnensektor wie etwa die Landwirtschaft. Auf Dauer ist diese milliardenschwere Quersubventionierung durch die Exportwirtschaft nicht mehr finanzierbar.
Wie viel Subvention darf es denn sein bei der Landwirtschaft?
Bis etwa 2025 gilt es den EU-Durchschnitt anzupeilen, das sind knapp 20 Prozent. Danach sollten wir uns an Australien und Neuseeland orientieren, dort beträgt die Subventionsquote weniger als 5% des bäuerlichen Einkommens.
Bei den technisch hochgerüsteten Bauern im Mittelland – geschenkt. Was aber ist mit den Bauern in den Berggebieten?
Es ist zu prüfen, die Pflege der Landschaftsqualität als eigene Aufgabe zu definieren, unabhängig vom Bauerntum. Man könnte ja den Beruf eines eidgenössisch diplomierten Landschaftspflegers schaffen. Das wäre günstiger als die heutige Lösung. Die Problematik der hochsubventionierten Landwirtschaft und die überhöhten Kosten für Nahrungsmittel schränken die Wettbewerbsfähigkeit anderer Wirtschaftsbereiche empfindlich ein, etwa in Tourismus und Gastgewerbe, die bereits mit dem starken Franken kämpfen. Hinzu kommt, dass der Agrarprotektionismus die weitere aussenwirtschaftliche Öffnung verhindert.
Die Bauern haben vor zehn Jahren mit Erfolg die Verhandlungen mit den USA über ein Freihandelsabkommen torpediert.
Ja, und heute steht das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP im Raum. Das könnte die Schweiz arg ins Hintertreffen bringen. Die Schweiz verdient das Geld mit dem Ausland, nicht indem sie die Grenzen zumacht. Schauen Sie: Alle sprechen davon, dass unser Land in den Rankings zu Wirtschaftskraft und Wohlstand ganz weit oben liegt. Was vergessen geht: Die Investitionsquote geht zurück und liegt nur noch knapp bei 20 Prozent, die Produktivitätsfortschritte sind unterdurchschnittlich. Wenn wir den Wohlstand halten wollen, braucht es rasch neue Freihandelsabkommen, etwa mit den USA und mit Australien.
Wie lautet eigentlich Ihr Rezept im Umgang mit Flüchtlingen?
Die Flüchtlingskrise kann nur im internationalen Kontext gelöst werden. Sind die Migranten aber hier und bleiben auf absehbare Zeit, sind sie rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist finanziell, aber auch ethisch sinnvoller, diese Menschen mit einer Flüchtlingslehre auf Basis der heutigen Attestlehre für einen einfachen Beruf zu qualifizieren, als dass sie von der Sozialhilfe leben.
Als echter Liberaler müssten Sie für die totale und globale Personenfreizügigkeit sein.
Wir leben in einer globalisierten Welt – auch wenn wir verstärkt mit nationalistischen Strömungen konfrontiert sind. Und zu einer globalisierten Welt gehört die Personenfreizügigkeit. Einer der Schweizer Erfolgspfeiler ist ja die ausgeprägte Internationalisierung. Weltbekannte Schweizer Unternehmen wurden von Einwanderern gegründet – von Henri Nestlé, Nicolas Hayek oder vom gebürtigen Wiener Ludwig Knie, dem Wegbereiter unseres Nationalzirkus. Ja, ich bin klar für den freien Personenverkehr.
Macht es sich die Wirtschaft oft nicht zu einfach? Dass man Leute aus dem Ausland holt, anstatt das heimische Potenzial zu nutzen?
Das ist eine Mär. Die Schweiz ist heute schon Europameisterin in Sachen Erwerbsbeteiligung, wir arbeiten also schon sehr viel und es gibt keine konjunkturelle Arbeitslosigkeit, also keinen umfassenden «Reservepool», den man so einfach anzapfen kann. Trotzdem bemühen sich die grossen Unternehmen stark. Nehmen wir ABB mit eigenen Kindertagesstätten, um als Arbeitgeber auch für junge einheimische Eltern attraktiv zu sein. Oder die UBS, die mit 100 Millionen Franken Top-Lehrstühle an der Uni Zürich unterstützt zur Förderung einheimischer Akademiker. Dafür erntete die Bank unverständlicherweise Proteste aus der Professorenschaft.
Präsentieren Sie jetzt ein Papier gegen protestierende Professoren?
Die Autonomiegrade der Hochschulen sind zu erhöhen. Nehmen Sie die Universität Oxford: Diese ist eine Art Holding, die einzelnen Colleges arbeiten weitgehend selbstständig. Der Präsident der ETH steht in Konkurrenz mit dem Rektor des erwähnten Oxford oder führenden Universitäten in den USA. Er sitzt heute aber im gleichen staatlichen Koordinationsorgan wie etwa der Direktor der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, obwohl er im weltweiten Wettbewerb um Bildungsexzellenz steht.
So vieles läuft falsch im Staate Schweiz! Dabei haben wir doch jetzt eine klare bürgerliche Mehrheit im Parlament.
Die Parteien haben eine andere Aufgabe. Sie haben eine Wählerschaft. Wir hingegen zeigen auf, welchen Reformbedarf wir sehen, um die Prosperität der Schweiz aufrechtzuerhalten. Es braucht einen Weckruf und eine breite Reformagenda. Dieser Weckruf sollte auch in der Politik ankommen.
Dieses Interview erschien am 27.6. 2016 in der «Aargauer Zeitung». Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.