«Während die Superreichen ihr Vermögen in Lichtgeschwindigkeit vermehren, geht es für die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung wirtschaftlich bergab.» Diese Botschaft verbreitet die Hilfsorganisation Oxfam jedes Jahr ähnlich, so dass sie längst zum Common Sense aller Ungleichheitsdebatten beim Feierabendbier mit Fair-Trade-Erdnüssen geworden ist – und damit zur kollektiv nachgebeteten Werbebotschaft einer Organisation, die ihr Jahresbudget von 1,1 Mrd. Dollar zu fast 40% aus öffentlichen Geldern bestreitet. 

Einer, der das Vorgehen Oxfams aus wissenschaftlicher Sicht kritisiert, ist Branko Milanović: «Diese Zahlen sind gut für die PR von Oxfam, aber sie ergeben keinen Sinn», meint der serbisch-US-amerikanische Ökonom. Die Verknüpfung der globalen Vermögensanalysen der Credit Suisse mit den Armutszahlen der Weltbank bringe zuverlässig aufsehenerregende Resultate – unvergessen etwa die Rede von den acht reichsten Menschen der Welt im Jahr 2016, die so viel privates Nettovermögen wie die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit besitzen sollten – sie bilde aber die zugrunde liegenden Entwicklungen unzureichend ab und stelle die Umstände tendenziös dar.

Der Oxfam-Vermögensverteilungs-Irrweg

Die acht reichsten Menschen besassen 2016 so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung? Das klingt für jeden Menschen bei gesundem Verstand intuitiv skandalös. Zwei Einwände, ein kleiner und ein grosser, relativieren die Zahl aber schnell:

Der kleine: Schon 2017 korrigierte Oxfam die Zahl auf 42 und rückwirkend für 2016 auf 54. In der ersten Berechnung war unter anderem die Verschuldung von Studenten an amerikanischen Elitehochschulen in die Kalkulation eingeflossen, was mit Armut doch eher wenig zu tun hat. Diese Korrektur zeigt: Wahrscheinlich weist die Berechnung nicht nur diese aufgrund vergleichsweise klarer Datenlage noch vergleichsweise leicht vermeidbare, sondern noch weitere (methodische) Schwierigkeiten auf. Aber ganz ehrlich: 42 gegen 3’700’000’000? Das ist doch immer noch völlig grotesk?

Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht a priori. Denn hier der zweite Einwand: Sowohl in den Industrieländern wie auch – und vor allem – in Schwellen- und Entwicklungsländern haben viele Menschen grundsätzlich kein steuerbares Vermögen. Das heisst nicht, dass sie am Hungertuch nagen, sondern dass sie ihr Einkommen laufend konsumieren. Gehen wir davon aus, die Hälfte der Weltbewohner habe – über die obligatorischen Abgaben für die Altersvorsorge, die in diesen Vermögensstatistiken nicht auftauchen, hinaus – kein Vermögen angespart, dann lautet die Rechnung für diese ärmere Hälfte: 3,7 (Mrd. Menschen) x 0 (Dollar) = 0. Sie haben also in Summe kein steuerbares Vermögen. Für die reichsten Menschen ist es dann ziemlich einfach, diese 0 zu übertreffen. Daraus folgt: Der Vergleich der grössten Vermögen mit der ärmeren Hälfte ist ohne jegliche Aussagekraft. Denn: Wohlstand ist nicht vom Vermögen abhängig, sondern vom laufenden Konsum und der nährt sich vor allem aus den laufenden Einkommen. Und dazu forscht Branko Milanović.

Branko Milanović anlässlich seines Auftrittes am Think-Tank-Summit von Avenir Suisse 2019. (Carmen Sopi)

Herr Milanović, was kann uns Ihre Forschung über die Ungleichheit in der Welt sagen?

Zuallererst: Es gibt viele unterschiedliche Ungleichheiten, über die sich zu reden und zu forschen lohnt: solche anhand von Geschlecht oder sozialer Klasse, solche zwischen einzelnen Ländern oder Menschen, die in unterschiedlichen Ländern leben – und besonders die Vermögensungleichheit, die Oxfam anschaut und von der Einkommensungleichheit zu trennen ist, ist dann noch mal ein Thema für sich. Ich forsche seit fast 30 Jahren im Bereich der Ungleichheit der Einkommen, und zwar zwischen Einzelpersonen – das heisst: Ich untersuche die Einkommensungleichheit aller Menschen weltweit. Und diese Einkommensungleichheit nimmt ab, nicht zu.

Der Befund ist sehr interessant, wir kommen gleich noch ausführlich dazu. Aber: Um feststellen zu können, wie sich die Einkommensungleichheit entwickelt, müssten Sie streng genommen über die Einkommensdaten von 7,4 Milliarden Personen über lange Zeiträume verfügen – tun Sie das?

Nein. Aber ich erhalte für jedes zweite oder dritte Jahr die Einkommensdaten für die meisten Länder der Welt, es sind etwa 140. Meine Untersuchungen beziehen sich dann auf Intervalle von fünf oder – in letzter Zeit – zwei Jahren: Ich stelle die Resultate der Haushaltsumfragen dieser 140 Länder zusammen, berechne anhand der Preisniveaus in den Ländern die Kaufkraft der Einkommen, um sie international vergleichbar zu machen, und errechne daraus eine globale Einkommensverteilung.

Länderspezifische vs. globale Einkommensverteilung

Mit einer klugen grafischen Darstellung ermöglicht Milanović eine Verortung der länderspezifischen in der globalen Einkommensverteilung: Er teilt die Bevölkerung eines Landes aufsteigend nach ihren Einkommen in 100 Klassen (Perzentile) ein. Für jedes Perzentil ermittelt er dann, welchem der 100 Perzentile der globalen Einkommensverteilung es angehört.

So zeigt sich z.B.: Die obersten 7 Einkommensprozent der USA gehören allesamt dem reichsten Prozent weltweit an, und wer sich in den Staaten in der Mitte der Einkommensverteilung befindet, gehört weltweit immerhin dem 92. Einkommensprozent an. China hat einen drastischen Aufstieg hinter sich: Während vor zehn Jahren kaum eine Überlappung zwischen den Einkommensverteilungen der USA und China existierte – d.h. das reichste chinesische Prozent hatte kaum mehr als das ärmste amerikanische –, so übertraf im Jahr 2013 die Kaufkraft bei mehr als einem Drittel der Chinesen jene der ärmsten US-Amerikaner.

Für die Schweiz existieren leider noch keine Angaben zu 2013. Im Jahr 2005 war die Kurve im oberen Einkommensbereich jedoch praktisch deckungsgleich mit der US-amerikanischen, im unteren lag sie deutlich darüber, denn die tiefen verfügbaren Einkommen in der Schweiz sind deutlich höher als die tiefen in den USA – einerseits wegen deutlich höherer Marktlöhne im Niedriglohnbereich, andererseits wegen der stärker ausgebauten Sozialwerke. Es gibt wenig Grund anzunehmen, dass sich daran in den letzten Jahren signifikante Änderungen ergeben haben.

Messen Sie das Einkommen vor oder nach Umverteilung über Steuern und Sozialleistungen?

Ich messe die verfügbaren Einkommen, denn hierfür sind die Daten über Haushaltsumfragen durchgehend verfügbar. Von den Markteinkommen des gesamten Haushalts werden also die obligatorischen Transferausgaben – dazu gehören Sozialversicherungsbeiträge, Steuern, Prämien für die Krankenkassen usw. – abgezogen, die gesetzlichen Renten und Sozialtransfers addiert, und das Resultat wird per Äquivalenzskala auf die Haushaltsmitglieder heruntergerechnet. Der Vergleich dieser Einkommen nach Umverteilung ist aufschlussreicher. Natürlich könnte man noch weitere Faktoren berücksichtigen, etwa indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer oder auf der anderen Seite, was die Menschen durch das jeweilige Gesundheits- und Bildungssystem «kostenlos» erhalten. Für einzelne Länder wird das auch getan, aber die Fülle von Daten, die man global dafür be­nötigt, ist enorm, und irgendwann würden die Vergleiche dann zu komplex.

Die gute Nachricht Ihrer Forschung: Die globale Ungleichheit der Einkommen nimmt nicht zu, sondern ab. Oxfam hat einmal mehr die Ungleichheit der Vermögen kritisiert und dabei mit keinem Wort darauf hingewiesen, dass sich auch diese mittelfristig ändern wird – und zwar massgeblich, weil grosse Teile der Weltbevölkerung endlich überhaupt oder sogar deutlich mehr Geld als noch vor dreissig Jahren verdienen.

Sie sind mit Ihrer Verwirrung nicht allein, denn hier wird viel durcheinandergeworfen: Heute ist oft generalisierend von «zunehmender globaler Ungleichheit» die Rede, obwohl sie eigentlich in vielen Bereichen stark abnimmt. Bis in die 1980er Jahre hin­ein konnte man dazu nur mutmassen, weil niemand die entsprechenden Zahlen zur Verfügung hatte: China führte erst 1984 die erste moderne Erhebung durch, viele Länder in Afrika bis etwa 1985 gar keine. Seither aber haben wir tatsächlich sehr gute Gründe anzunehmen, dass die globale Ungleichheit stark zurückgegangen ist.

Woran liegt nun das?

Ganz einfach: Länder, die sehr arm waren, wie zum Beispiel China, Indien, Indonesien und Vietnam – allesamt sehr bevölkerungsreiche Länder –, sind in der weltweiten Einkommensverteilung aufgestiegen. Sie stellen heute den globalen Mittelbau und fangen an, auch die höheren Einkommensklassen «aufzufüllen». Die Einkommen stiegen in diesen Ländern insgesamt auch deutlich schneller als diejenigen der westlichen Länder.

Sehr eindrücklich ist der Aufstieg von China: Hat es jemals eine vergleichbare Einkommensentwicklung gegeben?

Das ist eine einfache Frage, denn was Chinas Entwicklung betrifft, kann man fast immer sagen: Nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Ja, die Geschwindigkeit dieser Veränderung ist enorm und wenn Sie die Geschwindigkeit mit der Anzahl der Menschen multiplizieren, ist sie sogar absolut unglaublich. Und das Aussergewöhnlichste: Chinas Wachstum hält seit 40 Jahren an. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate betrug gut 7 Prozent – und dabei ist die Bevölkerung stark gewachsen, von mehr als einer Milliarde auf mittlerweile fast 1,4 Milliarden Menschen. Wenn China 1978 also bei 1 angefangen hat, gab es bis 1988 eine Verdoppelung, und bis 1998 noch einmal. 2008 war das Verhältnis bereits bei 8:1 und 2018 bei 16:1. Diese Zahlen sind absolut fantastisch!

Wie repräsentativ ist nun diese Entwicklung für die ganze Welt?

Die Entwicklung in China ist rasant und schwingt obenaus, aber in der Tendenz sehen wir in vielen asiatischen und auch in einigen anderen Schwellenländern dieselbe positive Entwicklung: Dank grossem Wirtschaftswachstum haben sich an vielen Orten Mittelschichten entwickelt, die sich nun weltweit zu einer globalen Mittelschicht «auftürmen» (vgl. Abbildungen und Box).

Von der zwei- zur einhöckrigen Einkommensverteilung

1988 war die weltweite Einkommensverteilung noch «bimodal», sie hatte also zwei Buckel: einen grossen, der sich aus den Einkommen in den Entwicklungs- und Schwellenländern aufbaut, wo ein Grossteil der Bevölkerung unterhalb der Schwelle der absoluten Armut lebt, und einen kleinen, bestehend aus den Einkommen in den Industrieländern. Das starke Wirtschaftswachstum in ersterem hat in den letzten 30 Jahren zu einem «Zusammenwachsen» der Berge geführt. Das heisst: Heute kann man von einer Art «globaler Mittelschicht» sprechen – und unterhalb der absoluten Armutsgrenze lebt, anders als Ende der 1980er Jahre (ca. 40 Prozent), nur noch ein kleiner Teil der Weltbevölkerung (weniger als 10 Prozent).

Branko Milanović

ist serbisch-US-amerikanischer Ökonom. Er arbeitete als Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und ist seit 2014 als Dozent am City University of New York Graduate Center tätig. Zuletzt von ihm erschienen: «Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht» (Suhrkamp, 2016). Ende 2019 erscheint sein neues Buch «Capitalism, alone», in dem er sich mit dem Paradox eines auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystems ohne Konkurrenz – der Kapitalismus nach dem Ende des Sozialismus – beschäftigt.

Der ganze Beitrag ist unter dem Titel «Was Sie schon immer über Ungleichheit wissen wollten…» in der Zeitschrift «Schweizer Monat» vom Mai 2019 erschienen. Teil 2 des Interviews finden Sie hier. 

Mehr Informationen zum Thema finden Sie hier: «Ein internationaler Think-Tank-Bericht zu Ungleichheit und Gleichheit»