Nicht nur in China, sondern in vielen asiatischen und auch in einigen anderen Schwellenländern ist dieselbe positive Entwicklung festzustellen: Dank grossem Wirtschaftswachstum haben sich an vielen Orten Mittelschichten entwickelt, die sich nun weltweit zu einer globalen Mittelschicht «auftürmen», konstatiert Branko Milanović. Der serbisch-US-amerikanische Ökonom ist seit 2014 als Dozent am City University of New York Graduate Center tätig. Im zweiten Teil unseres Interviews spricht Milanović über die erwarteten Entwicklungen in den alten Industrieländern sowie die Rolle der Nationalbanken. (Link zu Teil 1: «Globale Ungleichheit nimmt stark ab»)

Dank des Aufstiegs breiter Bevölkerungsschichten in China und anderen Schwellenländern hat die globale Ungleichheit abgenommen. Wie sieht es in den alten Industrieländern aus? Was passierte und passiert hier?

Die oberen Einkommensdezile – die weltweit zu den obersten Einkommensprozenten gehören – haben ebenfalls stark zugelegt. Darunter, vor allem in der unteren Mittelklasse – die in der globalen Einkommensverteilung etwa im 80. Perzentil stand –, war das Wachstum sehr gering.

Branko Milanović. (Carmen Sopi)

Sie sprechen die sogenannte Elefantengrafik an (vgl. Abbildung und Box), mit der Sie 2016 für Furore sorgten. Sie zeigt das reale Einkommenswachstum der globalen Perzentile in den 20 Jahren von 1988 bis 2008. 2008 ist schon wieder elf Jahre her. Was hat sich seither verändert?

Das obere Ende des Rüssels ist bis 2013 wegen der Finanzkrise etwas abgesunken. Man darf sich das aber nicht falsch vorstellen: Das oberste weltweite Prozent setzt sich mehrheitlich aus wohlhabenden Mitgliedern der westlichen Bevölkerung zusammen, das sind eben nicht nur Millionäre oder Milliardäre. Der Elefant für 2013 würde dann auch nicht sehr anders aussehen, bloss die Rüsselspitze wäre nicht mehr ganz so hoch und die Rüsselmitte nicht mehr ganz so tief – letzteres vor allem, da China weiterwächst und die einkommensstärkeren Chinesen zunehmend in diese Regionen vorstossen.

 

Die Elefantenkurve

Mit seinem Co-Autor Christoph Lakner publizierte Milanović 2015 ein Paper zur Entwicklung der globalen Einkommensverteilung zwischen 1988 und 2008. Eine Kurve erlangte schnell als «Elephant Chart» Berühmtheit. Sie stellt das Wachstum des Haushaltseinkommens in diesem Zeitraum pro weltweites Einkommens­perzentil dar. Es zeigt sich: Die ärmsten Perzentile (vorwiegend die ärmeren Haushalte in Subsahara-Afrika) treten auf der Stelle, nach einem Sprung steigt die Kurve langsam weiter an, was vor allem auf das enorme Wirtschaftswachstum weiter Teile Asiens zurückzuführen ist, dann sinkt sie etwas, bevor sie um das 80. Einkommensperzentil (die ärmeren Haushalte der Industrieländer) einen Einbruch auf 0 Prozent verzeichnet und sich für die obersten Perzentile dann wieder deutliche Zuwächse in der Kaufkraft zeigen. Das Ganze erinnert an die Dachlinie eines Elefanten, der seinen Rüssel hebt – darum der Name.

Milanović bot damit – unbeabsichtigt – Globalisierungskritikern Rückenwind: Sie sahen die Stagnation um das 80. Einkommensprozent, wo gemeinhin die untere US-Mittelschicht verortet wird, als Bestätigung dafür, dass die Globalisierung weiten Bevölkerungsteilen der entwickelten Länder «schade», während von ihr nur die Schwellenländer und die ganz Reichen profitierten.

Die Interpretation der Kurve ist so einfach aber nicht. Es muss etwa betont werden, dass nicht Lebensläufe miteinander verglichen werden: 0 Prozent Wachstum für das 80. Perzentil bedeutet nicht, dass eine 1988 diesem Einkommensperzentil angehörende Person kein Reallohnwachstum erzielte, sondern es bedeutet: Die realen Einkommen jener Haushalte, die 2008 zum 80. Perzentil gehörten, sind nicht höher als die jener Haushalte, die 1988 zu jenem Perzentil gehörten. Dabei kann – und wird – es sich aber um ganz andere Haushalte handeln.

Wie wird der Elefant in 30 Jahren aussehen?

Er wird verschwinden – und zwar sogar dann, wenn alles gleich bleibt: Nehmen wir an, China steige weiter auf, der Westen behalte sein eher schwaches Wachstum bei und die Armen hätten weiterhin ein Wachstum von etwa zwei Prozent im Jahr. Das würde die chinesische Bevölkerung weiter nach rechts schieben, die niedrigen Werte bei 80 bis 90 Prozent würden sich also deutlich erhöhen. Damit hätten wir nicht länger eine Elefantenform.

Halten wir fest: Die Einkommensungleichheit hat global betrachtet abgenommen. Und doch steigt sie innerhalb einzelner Länder an. Können Sie uns anschaulich erklären, wie das möglich ist?

Die Ungleichheit hat tatsächlich innerhalb vieler Länder zugenommen. Doch der Aufstieg wichtiger Schwellen- und Entwicklungsländer hat dazu geführt, dass sie global betrachtet trotzdem kleiner wird. Sie können sich das wie die Etagen eines Hotels vorstellen: Die verschiedenen Länder befinden sich auf verschiedenen Einkommensetagen, mit den Ärmeren in den unteren Stockwerken und den Reicheren im Penthouse. Natürlich kann auf jedem einzelnen Stockwerk für sich genommen die Ungleichheit steigen, gleichzeitig können sich aber die Etagen selbst einander annähern – und genau das ist es, was wir beobachten. Dieser Effekt ist ausreichend gross, um auszugleichen, dass die Einkommen der Menschen auf den einzelnen Etagen auseinandergehen.

Auch hier sticht China deutlich heraus: Innerhalb des Reichs der Mitte nimmt die Ungleichheit besonders stark zu. Kann die Entwicklung zu politischen Unruhen führen?

Das ist eine ernst zu nehmende Möglichkeit. Ich glaube jedoch, eine wirkliche politische Gefahr für China stellt vor allem Korruption im Verbund mit Ungleichheit dar, weil erstere letztere verschärft und das dann als besonders unfair empfunden wird. Die Korruption, die es immer schon gab, wurde unter Hu Jintao besonders offensichtlich und hat nun das Zeug, die Legitimität der Herrschaft zu unterminieren. China hat ja keine Wahlen, deshalb beruht diese Legitimität auf drei Faktoren: hohes Wachstum, tolerierbare Ungleichheit und tolerierbare Verwaltungsungerechtigkeit. Wenn nun die Leute sehen, wie viel Korruption es tatsächlich gibt, sägt sich die Regierung den Ast ab, auf dem sie sitzt. Und: China wird nicht ewig so weiterwachsen wie bisher, weil es sich nun einer technologischen Grenze annähert. Wenn der Faktor «hohes Wachstum» damit wegfällt, kann die Regierung es sich umso weniger leisten, die anderen zwei Faktoren, Ungleichheit und Korruption, aus dem Ruder laufen zu lassen. Das wird eine Herausforderung.

Nun haben wir viel über den Ist-Zustand gesprochen, aber wie kommt er eigentlich zustande? Konkret: Was verursacht die neue Einkommensungleichheit innerhalb einzelner Nationen und Volkswirtschaften?

Die grossen Treiber, darin dürften sich alle einig sein, sind Globalisierung, technologischer Wandel und politische Massnahmen. Uneins ist man sich hinsichtlich der relativen Wichtigkeit dieser drei Faktoren, und es ist sehr schwierig, empirisch oder wissenschaftlich zu ermitteln, wie gross ihr Einfluss ist, denn dazu muss man modellieren. Es gab zum Beispiel eine Arbeit, die auf diesem Wege einen hochsignifikanten Einfluss chinesischer Impulse auf US-Löhne aufzeigte – das ist plausibel und so etwas können Sie für zwei Länder machen, es ist aber unmöglich, so etwas für alle Länder der Welt zu machen.

Sie sagen, die Interdependenzen sind zu ausgeprägt, um generelle Rückschlüsse zu ziehen?

Ja. Es gibt Leute, die glauben, der wichtigste Motor der Einkommens­ungleichheit auf nationaler Ebene sei der technologische Wandel gewesen. Diese Leute behaupten: Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, weil es eine Aufholjagd derer geben wird, die den Wandel nicht an vorderster Front mitgestaltet haben. Dann gibt es Leute, die glauben, alle ungleichheitsfördernden Effekte seien auf politische Massnahmen der Vergangenheit – Steuersenkungen, weniger Regulierung, Gewerkschaftsvereinbarungen – zurückzuführen. Sie behaupten, die jüngeren Verteilungsunterschiede würden von Menschen verursacht und wir sollten diese Entwicklungen rückgängig machen, indem wir die zugrunde liegenden politischen Entscheide rückgängig machen. Der dritte Ansatz führt die Ungleichheit im wesentlichen auf die Globalisierung zurück, weil sie einen Rahmen geschaffen hat, in dem sich technologischer Wandel und Politik erst bewegen konnten…

Zu welcher Gruppe gehören Sie?

Ich persönlich glaube, dieser Rahmen hat es möglich gemacht, Technologien zu entwickeln, die auf billigere Arbeitskräfte im Ausland zurückgreifen konnten und die einen globalen Wirtschafts- und Wertewandel zur Folge hatten. So wurden Tausende von Applikationen für Smartphones entwickelt, wie Uber oder Airbnb, aber nicht nur, weil es technologisch machbar war, sondern weil Smartphones und Laptops gleichzeitig sehr billig geworden sind. Heute werden weltweit knapp 5 Milliarden Handys benutzt. Eine neue Applikation würde sich nicht bezahlt machen, wenn es nur 500 Millionen wären. Das meine ich damit, dass die Globalisierung den Rahmen geschaffen hat, in dem sich der politische und der technologische Wandel vollzogen haben.

Welche Rolle spielt der Umbau unserer Wirtschaftsstrukturen? Gibt es eklatante Unterschiede zwischen dienstleistungsorientierten und industriellen Volkswirtschaften, was die Einkommensungleichheit angeht?

Klar, die westlichen Volkswirtschaften waren noch in den 1960er und ʼ70er Jahren im wesentlichen industriell geprägt. Mittlerweile finden bis 85 Prozent der Wertschöpfung im Dienstleistungsbereich statt, und das hat Auswirkungen auf die Lohnstruktur: Es macht die Wirtschaft beinahe unweigerlich «ungleicher», weil Dienstleistungen in sich eine sehr heterogene Kategorie sind. Sie umfasst hochqualifizierte Leute wie Softwareentwickler mit Einkommen in Millionenhöhe, aber auch Hausmeister, die im Niedriglohnsektor arbeiten. In einer Produktionsökonomie gibt es eine viel kleinere Streuung von Fähigkeiten und Löhnen, und man kann die Zunahme der Einkommensungleichheit bei uns im Westen teilweise genau dadurch erklären: Wir wurden von Industrie- zu Dienstleistungswirtschaften.

Das kann aber nicht alles erklären: Die Schweiz ist nicht weniger deindustrialisiert als die USA, und hinsichtlich Kaufkraft liegt das BIP pro Kopf in beiden Ländern etwa auf dem gleichen Niveau. Trotzdem beträgt der Stundenlohn für unqualifizierte Arbeitskräfte in den USA etwa 7 oder 8 Dollar, in der Schweiz beinahe das Dreifache. Wie ist das möglich?

Ich schätze, der Pool ungelernter Arbeitskräfte ist in den USA schlicht viel grösser als in den westeuropäischen Ländern, was zu mehr Wettbewerb und niedrigeren Löhnen führt. Amerika ist ein sehr reiches Land, doch der dortige Arbeits- und auch Bildungsmarkt hat bestimmte Eigenheiten: Es ist kein Zufall, dass in den USA sehr viele antisäkulare Menschen leben, die an Kreationismus oder an andere Dinge glauben, die wissenschaftlich wenig plausibel sind, und die auch sonst nicht gut ausgebildet sind. Die Spaltung zwischen den Hochqualifizierten und dem grossen Pool von Ungelernten ist viel grösser als in Europa, wo die Grund-, Sekundar- und Hochschulbildungssysteme tatsächlich die gesamte Bevölkerung erfassen.

Welche Rolle spielt die Geldpolitik? William White und andere namhafte Ökonomen behaupten, sie spiele eine zentrale Rolle für die Verteilungsungleichheit: Das Niedrigzinsumfeld ermöglicht es auch unproduktiven Unternehmen, sich über Wasser zu halten, da sie für die Finanzierung ihres Fremdkapitals keine signifikante Rendite erzielen müssen. Das senkt das Produktivitätswachstum und damit ganz direkt auch das Reallohnwachstum in einer Wirtschaft. Davon betroffen sind logischerweise die Arbeitnehmer, und nicht so sehr die «Kapitalisten», die ihr Vermögen in Aktien oder Immobilien angelegt haben, die dank der expansiven Geldpolitik sogar grosse Wertsteigerungen erfuhren.

Ich kenne das Argument. Es zielt darauf ab, dass von hohen Preisen für Vermögenswerte nur Menschen profitieren, die sie eben schon besitzen. In diesem Bereich habe ich allerdings nicht geforscht, deswegen kann ich mehr dazu nicht sagen.

Die meisten europäischen Länder versuchen, Ungleichheit durch mehr Umverteilung von Wohlstand zu bekämpfen.Warum gelingt das offenbar nicht?

Wenn man sich die Zahlen ansieht, kann man nicht sagen, dass die Sozialausgaben überall steigen: Sie sind in Wohlfahrtsstaaten mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau wie früher, wenn Sie das jährliche Steueraufkommen oder sogar spezifisch die Sozialausgaben mit dem BIP vergleichen – mit Ausnahmen vielleicht in den grossen Krisenjahren, in denen der Staat tatsächlich eine aktivere Rolle gespielt hat. Im Grunde ist die Kurve nach 1985 flach. Die liberale Idee, den Staat zu verkleinern, um mehr produktive Kräfte freizusetzen, wurde also nicht in die Tat umgesetzt, wie links gern behauptet wird, «mehr Staat» war aber international in den letzten Jahren auch selten die Devise. Auch würde ich nicht behaupten, dass die Umverteilung wirkungslos ist: In Grossbritannien und Deutschland hat die Ungleichheit der Markteinkommen, also vor Steuern und Sozialtransfers, gleich stark zugenommen wie in den USA. Die Rolle des Staates, dem durch Steuern und Sozialtransfers entgegenzuwirken, ist in Deutschland aber wesentlich grösser als in den USA – und wenn ich mir Deutschland oder auch die nordischen Länder anschaue, würde ich nicht sagen, dass das ein Fehler ist.

Fragen wir andersherum: Stünden der Politik bessere Instrumente zur Verfügung, um die Ungleichheit innerhalb eines Landeszu verringern?

Sagen wir es so: Wer versucht, die Instrumente der 1960er Jahre wieder aus der Mottenkiste zu holen, wird keinen Erfolg haben. Die «starken Gewerkschaften» kann man nicht zurückholen, weil sich durch neue Technologien die Natur der Arbeit verändert hat. Und die Steuern in den reichen Ländern kann man auch nicht mehr erhöhen, weil die meisten Europäer keinen durchschnittlichen Steuersatz von über 50 Prozent zahlen wollen. Für sehr hohe Einkommen wären höhere Grenzsteuersätze ein Mittel, viele Grossverdiener würden dann allerdings einfach ihren Steuersitz verlagern. Hohe Kapitalsteuern gibt es aus den gleichen Gründen ebenfalls nicht mehr. Was funktioniert: bessere öffentliche Bildung. Bildung als Investment in eine Zukunft im Hochqualifikationssegment ist ein wichtiges Instrument. Aber auch dabei kann man sehr viel falsch machen. Schauen Sie nach Italien: Dort sollen Kinder statt mit 16 oder 17 Jahren ihren Schulabschluss heute mit 14 Jahren machen, damit sie «früher ins Erwerbsleben eintreten» können. Klingt nett, aber erstens erhalten Sie auf diesem Weg nicht mehr Hochqualifizierte und zweitens gibt es für die ganzen jungen Schulabgänger auch kaum Arbeitsplätze.

Wenn Sie die Politik eines entwickelten Landes für einen Tag bestimmen könnten, was würden Sie ändern?

(Überlegt) Ich würde zweierlei veranlassen: Eine andere Umverteilung vornehmlich durch hohe Erbschaftssteuern, weil akkumuliertes Vermögen einer der Faktoren ist, die die Ungleichheit über Generationen hinweg zementieren. Allerdings bin ich auch der festen Überzeugung, dass wirtschaftliches Wachstum und ein es begünstigendes Umfeld wesentlich sind, und zwar vor allem für arme Länder: Denen kann es nur besser gehen, wenn ihre Wirtschaft wächst.

Viele Liberale würden die Forderung nach einer Erbschaftssteuer wohl nicht aus Verteilungsgerechtigkeits-, sondern aus meritokratischen Produktivitäts- und Anreizgründen unterstützen, wenn gleichzeitig die vielen Doppelbesteuerungen wegfielen. Bei Ihrer Verteidigung des Wachstums kommen wir aber zu einem zentralen Punkt in der Ungleichheitsdebatte: Viele Menschen scheinen die Weltwirtschaft und die damit einhergehenden Verteilungsungleichgewichte fälschlicherweise für eine Art Nullsummenspiel zu halten: Was jemand gewinnt, muss ein anderer verloren haben. Auf dieses Narrativ setzen auch Oxfam und Co. – müssen wir in der Bildung nicht vor allem das ökonomische Verständnis fördern?

Das halte ich für eine sehr gute Idee! Es stimmt, dass die Weltwirtschaft von vielen gemeinhin für einen Kuchen gehalten wird, der irgendwie gegeben ist. Dieser Kuchen ist aber nicht gegeben: Er wird immer grösser, daran backen immer mehr mit und immer mehr haben auch etwas davon. Warum reden wir denn heute über China? Weil das Land ein unglaubliches Wachstum hingelegt hat! Ich weiss nicht, in welcher Welt Menschen leben, die sagen, wir sollten kein Wachstum mehr haben. Wenn sie das wirklich glaubten, müssten sie eine Rezession begrüssen, denn das bedeutet ja in dieser simplen Narration auch «weniger Umweltverschmutzung» durch weniger Wachstum und damit «mehr Nachhaltigkeit». Aber das ist absolut falsch!

In einem Essay für unsere Zeitschrift schrieb der Historiker Walter Scheidel Ende 20179, «zuverlässig» im Hinblick auf die Nivellierung der Wohlstandsverhältnisse seien nur die «vier apokalyptischen Reiter» der Menschheitsgeschichte: grosse Kriege, Revolutionen, kollabierende Staaten und tödliche Pandemien. Was Scheidel nicht sagt: ausbleibendes Wachstum kann schnell zu den ersten dreien führen oder?

Selbst für objektiv reiche Länder wie die Schweiz wird es tatsächlich sofort problematisch, wenn sie nur noch um 0,1 Prozent zulegen. Ich bin also absolut für Wachstum. Wenn ich wählen müsste, hielte ich es aber für wichtiger, dass es in Afrika stattfindet als in der Schweiz oder in Schweden – aber wichtig ist es für alle Länder.

Afrika ist ein gutes Stichwort, denn auf diesem Kontinent lebt ein Grossteil jener, deren Vermögen und Einkommen stagnieren oder sogar zurückgehen. Ein erhebliches Wirtschaftswachstum von Afrika würde die globale Vermögens- und Einkommensungleichheit stark verringern. Abschlussfrage: Wann ist es so weit?

Afrikas Entwicklung ist eine Blackbox. Der Kontinent hat sich uns, was die Einkommen betrifft, nicht angenähert. Das mittlere BIP der 28 EU-Länder beträgt pro Kopf 36 000 Dollar. Für die wohl 49 Staaten in Subsahara-Afrika erhält man im Schnitt pro Kopf 3600 Dollar – das Verhältnis liegt kaufkraftbereinigt also bei 10 zu 1. In den 1960er Jahren war es 6 zu 1, stieg danach auf 14 zu 1, um dann aufgrund der Stagnation in Europa und des anhaltend langsamen Wachstums in Afrika wieder zu sinken. Afrika bräuchte Jahrzehnte enormen Wirtschaftswachstums, damit angesichts des Bevölkerungswachstums auch die Pro-Kopf-Einkommen fundamental steigen würden. Es wäre schön, wenn Afrika das Asien des 21. Jahrhunderts würde. Aber wenn nicht, haben wir ein grosses Problem, nein drei: eine wachsende Zahl von Armen, mehr Armutsmigration und auch mehr Ungleichheit.

Branko Milanović

ist serbisch-US-amerikanischer Ökonom. Er arbeitete als Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und ist seit 2014 als Dozent am City University of New York Graduate Center tätig. Zuletzt von ihm erschienen: «Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht» (Suhrkamp, 2016). Ende 2019 erscheint sein neues Buch «Capitalism, alone», in dem er sich mit dem Paradox eines auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystems ohne Konkurrenz – der Kapitalismus nach dem Ende des Sozialismus – beschäftigt.

Teil 1 des Interviews finden Sie hier. Der ganze Beitrag ist unter dem Titel «Was Sie schon immer über Ungleichheit wissen wollten…» in der Zeitschrift «Schweizer Monat» vom Mai 2019 erschienen.

Mehr Informationen zum Thema finden Sie hier: «Ein internationaler Think-Tank-Bericht zu Ungleichheit und Gleichheit»