Die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch die gewerkschaftlichen Forderungen zum 1. Mai. So wird am Kampftag der Arbeiterbewegung inzwischen nicht mehr gegen die grenzenlose Ausbeutung der Arbeiterklasse (etwa durch lange Arbeitstage) gekämpft, sondern – schon fast zahm – für «anständige» Löhne. Konkret: Niemand soll hierzulande weniger als 4500 bzw. 5000 (Berufstätige mit Lehre) Franken im Monat verdienen.
Überhaupt sind Forderungen nach flächendeckenden Lohnuntergrenzen en vogue. Nachdem ein nationaler Mindestlohn 2014 an der Urne scheiterte, gingen die Mindestlohn-Befürworter den föderalen Weg. Fünf kantonale Mindestlöhne später ist man auf der kommunalen Ebene angelangt. Als nächstes stimmt die Stadt Zürich im Juni über den Gegenvorschlag einer entsprechenden Volksinitiative ab.
Mindestlöhne verfolgen ein hehres Ziel. Wer kann schon gegen «faire» Löhne und weniger (Einkommens-) Armut sein? Die Forderung, wer arbeitet, soll vom Lohn anständig leben können, hat nachvollziehbare Gründe. Doch gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Das gilt auch bei gesetzlichen Mindestlöhnen. Diese können ihre sozialpolitischen Versprechen nicht halten – aus mehreren Gründen:
Kein treffsicheres Mittel gegen Armut
Erstens wird Armut in der Regel durch Erwerbslosigkeit und nicht durch Tieflöhne verursacht. Neun von zehn Armutsbetroffenen in der Schweiz sind nicht oder nur Teilzeit erwerbstätig.
Zweitens entfaltet ein Mindestlohn selbst bei den sogenannten Working Poor nur beschränkt Wirkung. Rund zwei Drittel der Working Poor erzielen Mindestlöhne über der Tieflohnschwelle. Andere Gründe (z.B. Kinder) sind relevantere Risikofaktoren. Die meisten Armutsbetroffenen können bzw. würden also gar nicht von einem gesetzlichen Mindestlohn profitieren.
Drittens leben nur wenige vollzeiterwerbstätige Menschen mit tiefen Löhnen effektiv in einem Working-Poor-Haushalt. Die grosse Mehrheit der Tieflohnempfänger lebt mit Personen zusammen, die zusätzliche Erwerbseinkommen erzielen. Nicht selten leben Tieflohnbezüger sogar in einem Haushalt der höheren Einkommensklassen. Ein Grund dafür ist, dass es sich bei den Betroffenen oft um junge Erwerbstätige und Studierende handelt. Berechnungen für einen Mindestlohn im Kanton Zürich zeigen ferner: Für jede armutsbetroffene Person, die von der Einführung einer Lohnuntergrenze profitieren würde, erhielten auch neun nicht armutsbetroffene Personen eine Lohnerhöhung. Das mag die Lebensumstände jedes Einzelnen verbessern. Kluge und zielgerichtete Sozialpolitik sieht jedoch anders aus.
Negative Beschäftigungseffekte
Mindestlöhne stellen, viertens, nicht nur ein untaugliches Mittel zur Armutsbekämpfung dar, sie können auch sozialen Schaden anrichten. Und zwar genau bei denjenigen, die man mitunter schützen will. Zu hohe bzw. undifferenzierte Mindestlöhne führen dazu, dass sich die Anstellung gewisser Personengruppen für die Unternehmen nicht mehr auszahlt. Dazu zählen etwa Flüchtlinge, deren Produktivität zu Beginn (u.a. infolge fehlender Sprachkenntnisse und Qualifikation) noch niedrig ist.
Tiefe Löhne betreffen häufig Erwerbstätige, die erstmalig auf dem Arbeitsmarkt Fuss fassen. Mindestlöhne können deshalb Eintrittshürden darstellen und die beruflichen Chancen der Jüngeren negativ beeinträchtigen. Erschwert wird der (Wieder-) Einstieg in den Arbeitsmarkt auch für Quereinsteiger und Mütter.
Das genaue Ausmass dieser Beschäftigungseffekte ist Gegenstand hitziger Debatten unter Ökonomen. Die Einführung eines Mindestlohnes muss dabei nicht zwingend zu Entlassungen führen. Die Literatur zeigt, dass Arbeitgeber eher die Anstellungen reduzieren. Auch werden die höheren Lohnkosten zum Teil auf die Preise überwälzt.
Einig ist man sich, dass die Beschäftigungseffekte von der Mindestlohnhöhe abhängen. Bei welcher Höhe welche konkreten Effekte eintreten, ist indes kaum prognostizierbar. Doch warum sollten Politik und Stimmvolk hier überhaupt Experimente wagen? Die Schweiz verfügt über ein ausgezeichnetes und engmaschiges Sozialnetz, das den Bedürfnissen der sozial Schwachen viel gezielter entsprechen kann. Mindestlöhne fügen sich deshalb in eine aktuelle Reihe von Politinitiativen ein, die keineswegs die propagierte Wirkung zu entfalten vermögen und stattdessen mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Gewiss, am 1. Mai werden gerne Illusionen verkauft. Gute Politik orientiert sich hingegen an den Realitäten.
Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unserer Studie «Wen schützt der Lohnschutz?».