Auf dem Arbeitsmarkt spielt sich derzeit Bemerkenswertes ab. Ende Mai waren bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren 98’000 Arbeitslose registriert, die Arbeitslosenquote sank auf tiefe 2,1%. Demgegenüber steht eine rekordhohe Zahl von 114’000 offenen Stellen. Erstmals seit Erhebung der Daten übertrifft das Stellenangebot die Anzahl der Arbeitslosen. Als Folge des ausgetrockneten Arbeitsmarktes suchen viele Unternehmen händeringend nach Arbeitskräften. Besteht Anlass zur Sorge um den heimischen Arbeitsmarkt? Und: Werden wir angesichts der unbesetzten Stellen gerade Zeuge davon, wie die Personenfreizügigkeit mit der EU an Bedeutung verliert?

Die Beschäftigungsstatistik zeigt: Schweizer Unternehmen tun sich so schwer wie noch nie, geeignete Fachkräfte zu finden. Mehr Mühe als sonst bekunden sie auch bei der Rekrutierung von Niedrigqualifizierten. Der Fachkräftemangel ist zum einen struktureller Natur. In der Schweiz sind Fachkräfte – und sogar Nicht-Fachkräfte – seit jeher knapp. Langfristige Trends wie die demografische Alterung akzentuieren das Problem. Angebotsseitig dürften sich auch weiterhin die grosszügigen Pandemie-Massnahmen (u.a. verlängerte Bezugsdauer der Kurzarbeit) auf die Personalknappheit auswirken. Zudem läuft das «Matching» von Stellensuchenden und Job-Angeboten weniger rund als noch vor der Pandemie.

Dennoch deutet wenig darauf hin, dass der Personalmangel grössere Umwälzungen am Arbeitsmarkt widerspiegelt. Von einer «Great Resignation» – einer grossen Kündigungswelle durch Arbeitnehmer wie in den USA – kann in der Schweiz keine Rede sein. Hierzulande ist die berufliche Mobilität nicht ungewöhnlich hoch. Es gibt keine statistisch gesicherten Hinweise darauf, dass sich die Menschen infolge der Pandemie verstärkt nach neuen Herausforderungen umsehen würden.

Britische Flugzeuge heben nicht mehr ab

Für manche ist die gegenwärtige Arbeitsmarktlage der Beweis, dass die Personenfreizügigkeit mit der EU ihre Versprechen nicht mehr erfüllen kann. Das ist zu kurz gedacht. Die relevante Frage lautet: Wie akut wäre die Situation am Arbeitsmarkt, wenn wir keine Personenfreizügigkeit hätten? Diesbezüglich lohnt sich ein Blick über den Ärmelkanal. Die Arbeitslosigkeit in Grossbritannien ist auf einem 50-jährigen Tief, die offenen Stellen übertreffen im ersten Quartal dieses Jahres ebenfalls erstmals die Arbeitslosenzahlen. Das war es aber auch schon mit den Parallelen.

Der britische Arbeitsmarkt trocknet nur dank hoher Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten nicht aus: Pub in London. (Polina Volkova, Unsplash)

Im Gegensatz zur Schweiz bleiben in Grossbritannien vor allem deswegen immer mehr Stellen unbesetzt, weil die Erwerbsquote schrumpft. Seit Ausbruch der Pandemie haben sich rund 500’000 Personen vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Ins Gewicht fällt eine markante Abwanderung von Arbeitnehmern aus der EU. Der Brexit erschwert die schnelle Besetzung offener Stellen. Derweil zwingt der Personalmangel die Wirtschaft in die Knie – Flugzeuge starten nicht, Restaurants schliessen. Im März und April schrumpfte die Wirtschaft. Der Arbeitsmarkt scheint nur deshalb nicht vollends auszutrocknen, weil das Land von einer anhaltend hohen Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten profitiert. Auch wenn der konkrete Effekt des Brexit nur schwer von parallelen Entwicklungen (insbesondere Pandemie) isoliert werden kann, so deuten alle Daten darauf hin, dass der EU-Austritt die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt verschärft.

In der Schweiz hat die Erwerbsquote das Vorpandemie-Niveau hingegen wieder erreicht. Die Zuwanderung aus dem EU-Raum blieb über die Pandemie hinweg stabil, wovon nicht zuletzt auch das Gesundheitswesen profitierte. Und sie trägt dazu bei, dass die Wirtschaft zurzeit floriert. Allerdings trübt sich das internationale Umfeld ein. Wenn die Konjunktur abflaut, dürfte sich auch die Situation am Arbeitsmarkt wieder etwas entspannen.

Senkung der Mineralölsteuer oder gleich ein «chèque fédéral»?

Im Vergleich zum Ausland ist die Inflation zudem weiterhin moderat. Und dennoch überbieten sich in Bern derweil Politiker aller Couleur mit Vorstössen zur Abfederung einer Krise, die es so nicht gibt. Der Staat sollte eine überhitzte Nachfrage mittels «chèque fédéral» oder Ähnlichem nicht noch zusätzlich stimulieren. Stattdessen empfiehlt es sich, auf die Stärke zweier bewährter Institutionen zu vertrauen: Der Nationalbank, die gewillt scheint, dem inflationären Druck entgegenzuwirken, und – eben – dem robusten Arbeitsmarkt (Lohnerhöhungen sind zu erwarten), der seinen Teil dazu beitragen wird, die Situation zu entschärfen.

Also alles bestens? Nicht ganz. Auch wenn politischer Aktivismus aktuell nicht angezeigt ist, so besteht mittelfristig durchaus Handlungsbedarf. Um dem Fachkräftemangel effektiv entgegenzuwirken, gilt es einerseits, das vorhandene inländische Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen. Diesbezügliche Vorschläge – etwa eine Verbesserung der Arbeitsanreize für Zweitverdienende mittels Individualbesteuerung – liegen auf dem Tisch. Andererseits wäre die Zeit reif, über Alternativen zum bürokratischen Kontingentsystem für Drittstaaten-Arbeitskräfte nachzudenken. Die Personenfreizügigkeit allein wird infolge der demografischen Entwicklung in den EU-Ländern die Nachfrage des Schweizer Arbeitsmarkts nach Fachkräften nicht befriedigen können. Der Bedarf nach Humankapital wird also zukünftig vermehrt ausserhalb des europäischen Raums abgedeckt werden müssen. Hier liegt migrationspolitisches Potenzial brach. Und es liesse sich – trotz Brexit – durchaus etwas von den Briten lernen.