Die Schweizer Stimmenden verhalten sich bei europapolitischen Vorlagen grossmehrheitlich pragmatisch, was bisher – trotz unterschiedlicher Grössenverhältnisse zwischen der Schweiz und der Europäischen Union – zu einer guten und engen Zusammenarbeit mit ökonomischen Vorteilen für beide Seiten führte. Rund um die Diskussion über das in der Schweiz umstrittene institutionelle Rahmenabkommen tut deshalb eine kurze Erläuterung zur Entstehungsgeschichte des bilateralen Wegs Not.

Seit die Schweiz und die EU (damals noch EWG) 1972 einen Freihandelsvertrag abgeschlossen haben, wurde die Zusammenarbeit zwischen den beiden Partnern kontinuierlich vertieft; entsprechend stark zugenommen haben die gegenseitigen Verflechtungen. Nach 1972 kam es zur Unterzeichnung von zahlreichen zusätzlichen Abkommen, von Versicherungen (1989) bis zur Polizeikooperation (2019). Am bedeutendsten sind die Bilateralen I (1999) und II (2004). Insgesamt wurden rund 20 Hauptabkommen und ca. 100 weitere Verträge abgeschlossen.

Ausgewählte Abkommen zwischen der Schweiz und EU

2019Unterzeichnung des Abkommens über die Teilnahme an der Prümer Polizeikooperation
2017
Unterzeichnung des Abkommens über die Verknüpfung der Emissionshandelssysteme Schweiz–EU
2017Vollassoziierung der Schweiz an «Horizon 2020»
2016Beschluss zur Umsetzung von Art. 121a BV durch das Parlament
2016Unterzeichnung des Protokolls III zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien
2015Unterzeichnung des Abkommens über den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen
2014Unterzeichnung des Partizipationsabkommens EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen)
2013Unterzeichnung des Kooperationsabkommens Satellitennavigation
2013Unterzeichnung des Wettbewerbsabkommens
2012Unterzeichnung des Verteidigungsabkommens EVA (Europäische Verteidigungsagentur)
2010Unterzeichnung des Abkommens Bildung, Berufsbildung und Jugend
2009Weiterführung der Personenfreizügigkeit sowie Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien
2008Unterzeichnung des Abkommens mit Eurojust
2006Annahme des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas durch das Volk
2005Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die EU-10
2004Unterzeichnung des Abkommens mit Europol
2004Unterzeichnung der Bilateralen II (Schengen/Dublin, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung, Landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte, Umwelt, Statistik, Medien, Ruhegehälter)
1999Unterzeichnung der Bilateralen I (Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Öffentliches Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr, Forschung)
1990Unterzeichnung des Abkommens über Zollerleichterungen und Zollsicherheit
1989Unterzeichnung des Versicherungsabkommens
1972Unterzeichnung des Freihandelsabkommens Schweiz-EU
(Quelle: EDA 2021)

Die Diskussion um das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) richtet ein weiteres Mal den öffentlichen Fokus auf die Beziehungen der Schweiz zur EU. In der Politik ist es umstritten, während die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung auch diesmal pragmatisch eingestellt zu sein scheint: Laut einer aktuellen Umfrage liegt die Zustimmungsrate bei 64%. Seit 1992 konnte die Stimmbevölkerung bereits 13 mal über europapolitische Vorlagen entscheiden. In der überwiegenden Zahl der Fälle sprach sich der Souverän für eine Fortführung und Vertiefung des bilateralen Weges aus.
Die Schweiz sichert sich mit der Vielzahl der bisherigen Abkommen nicht nur den Zugang zum EU-Binnenmarkt, sondern nimmt v.a. dank den Bilateralen (beinahe) gleichberechtigt daran teil – trotz asymmetrischen Grössenverhältnissen. Am augenfälligsten ist dies bei der Marktgrösse: Das EU-BIP ist knapp 23 mal so gross wie das schweizerische, ausserdem leben 52 mal so viele Menschen im EU-Binnenmarkt wie in der Schweiz. Die Schweiz ist aber aufgrund der mehr als doppelten Pro-Kopf-Kaufkraft ein attraktiver Markt, dennoch dürften sich Schweizer Unternehmen in der EU alleine aufgrund der faktischen Grösse des europäischen Binnenmarkts mehr Möglichkeiten eröffnen als für EU-Unternehmen in der Schweiz.

Die Asymmetrie zwischen der EU und der Schweiz (2020)

IndikatorSchweizEU-27Faktor
Fläche41 285 km²4 225 127 km²102,3
Bevölkerung (*2019)8,6 Mio.446,8 Mio.52
Reales BIP523 Mrd. €11 766 Mrd. €22,5
BIP pro Kopf60’500 €26’230 €0,4
Quelle: BFS und Eurostat (2019)

Handel und Direktinvestitionen

In absoluten Zahlen hat die Schweiz gegenüber der EU-27 sowohl bei den Waren als auch den Dienstleistungen einen klaren Importüberschuss. 2020 importierte die Schweiz Erzeugnisse und Dienstleistungen im Wert von rund 168 Mrd. Fr. Dies entspricht fast 60% des totalen Importvolumens. Die Exporte in die EU-27-Länder beliefen sich auf rund 152 Mrd. Fr. Auch relativ zum gesamten Aussenhandel der Schweiz bleibt die EU der mit Abstand wichtigste Partner: 48% aller Waren- und 40% aller Dienstleistungsexporte gingen 2020 in die EU.

Für die EU-27 ist die Schweiz nach den USA, dem Vereinigten Königreich und China der wirtschaftlich viertwichtigste Partner. Doch die wirtschaftliche Bedeutung der Schweiz für die EU ist deutlich geringer als umgekehrt die Relevanz der EU für die Schweiz: So gehen knapp 7% aller Waren- und 12% aller Dienstleistungsausfuhren der EU-27 in die Schweiz. Gesamthaft betrachtet würde also eine Verschlechterung des gegenseitigen Marktzutritts die Schweiz – im Verhältnis zum gesamten Aussenhandelsvolumen – deutlich härter treffen als die EU.

 

Enge Verflechtungen bestehen auch durch die zwischen den beiden Wirtschaftsräumen üppig fliessenden Direktinvestitionen. Rund 54% aller Schweizer Direktinvestitionen im Ausland befinden sich in der EU (2018), sie haben sich zwischen 2010 und 2018 beinahe verdoppelt (von 418 Mrd. auf 791 Mrd. Fr.). Darunter dürften sich auch viele Gründungen von EU-Tochtergesellschaften durch Schweizer Unternehmen befinden, die damit eine grössere Nähe zum Hauptabsatzmarkt bezwecken. Im Gegensatz dazu fliessen 14% der EU-Direktinvestitionen in die Schweiz (Zahlen von 2018, inkl. Vereinigtes Königreich). Dieser Betrag erreicht allerdings eine stattliche Höhe von rund 1,2 Bio. Fr., es wird also in absoluten Zahlen deutlich mehr in die Schweiz investiert als von der Schweiz aus in die EU.

Fazit

Aus wirtschaftlicher Perspektive eröffnen sich Schweizer Unternehmen im EU-Binnenmarkt rein quantitativ beim Handel von Waren und Dienstleistungen mehr Geschäftsmöglichkeiten als für EU-Unternehmen in der Schweiz. Erstere hätten also bei einem sich verschlechternden Marktzugang mehr zu verlieren. Die Schweiz profitiert allerdings davon, dass die Kaufkraft hierzulande hoch ist und damit einen Teil der Asymmetrie ausgleicht.