Anarchisten und Libertäre haben einen Irrtum gemein: Beide glauben, eine Gemeinschaft könne ohne hoheitliche Institutionen funktionieren. Klassische Liberale konnten mit solchen Schwärmereien seit jeher nichts anfangen. Egal ob Immanuel Kant, John Locke oder Montesquieu, ihnen allen war bewusst, dass es Freiheit immer nur in einem Rechtsstaat geben kann. Am radikalsten formuliert hat dies wohl Thomas Hobbes mit seiner Idee des Leviathans, dem allmächtigen Staat, der die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger garantiert.

So verwundert es nicht, dass sich manche genau jetzt, da das Corona-Virus die Welt in Atem hält, einen solchen potenten Staat wünschen. Es überrascht auch nicht, dass staatsgläubige linke Apologeten gleich mit Nationalbankgeldern milliardenschwer finanzierte, industriepolitisch motivierte Programme postulieren, und nationalkonservative Kreise ihr Abschottungsmantra wiederholen – aktuell gegen die «ausländische» Virengefahr –, diesmal mit einer umfassenden Grenzsicherung.

Dieser Wunsch nach dem allgegenwärtigen Staat in der liberalen Schweiz orientiert sich offensichtlich primär am autokratisch regierten China, scheint doch das Land der Mitte die Pandemie auf dem eigenen Territorium mit drakonischen Mitteln unter Kontrolle bekommen zu haben. Ob sich die Statistiken aber als korrekt und die Trendumkehr als nachhaltig erweisen, wird sich erst noch bewahrheiten müssen. Marktwirtschaftlich orientierte Demokratien wie Taiwan und Südkorea verzeichnen genauso grosse Erfolge.

Staatliche Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus-Ausbruchs in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Privaten. (Unsplash)

Gegenüber Bürgern und Unternehmen in der Pflicht

Dennoch: Zur Bekämpfung der sich ausbreitenden Coronaviren-Pandemie stehen die Schweizer Behörden besonders in der Pflicht. Gemäss Bundesverfassung trifft der Bund Massnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Kein vernünftiger Liberaler kann dem Staat angesichts der derzeitigen Pandemie seine gewichtige Rolle absprechen. Die Bewältigung einer solchen Situation stellt wohl gerade die Stunde des Staates dar, denn die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung gehört zu den Kernaufgaben hoheitlichen Handelns. Dabei muss der Staat Verantwortung übernehmen.

Bekannt ist, dass im Fall einer Pandemie wegen der Seltenheit des Ereignisses, kombiniert mit der globalen Dimension, gewisse Märkte versagen – deshalb werden Schäden im Pandemiefall auch oft von Versicherungen ausgenommen. Staatliche Vorratshaltungen und präventive Massnahmen für diese ausserordentliche Lage sind daher Teil der Vorsorge. Dazu kommt es während einer Pandemie infolge individuellen Verhaltens zu nachteiligen Auswirkungen für die Gesellschaft in der Form von Ansteckungen sowie zu Koordinationsproblemen bei der Vermeidung von Ansteckungen. Auch hier ist der Staat in der Pflicht, auf hoheitliche Massnahmen wie etwa Versammlungsverbote zurückzugreifen, auch wenn dies einen massiven Eingriff in individuelle Grundrechte darstellt. In der Wirtschaftspolitik sollte das Augenmerk des Staates auf Liquiditätsengpässe der Unternehmen gerichtet sein, von einem Konjunkturprogramm ist abzusehen.

Staatsversagen am dümmsten Ort

Dass der Staat in einer solchen Krise gefordert ist, heisst nicht, gleich das gesamte freiheitliche System in Frage zu stellen. Ein starker unterscheidet sich von einem sehr grossen oder tyrannischen Staat. Was nämlich bei der Vorbereitung und dem Management eines seltenen Krisenfalls effizient und effektiv ist, ist keineswegs auch in normalen Zeiten der Fall. So stellte der globale Markt für Medizinprodukte in den vergangenen Jahrzehnten durchaus eine ausreichende Versorgung der Spitäler sicher. Für den Krisenfall hat der Staat jedoch geeignete Massnahmen zu ergreifen – und das scheint in der Schweiz zumindest teilweise nicht funktioniert zu haben.

Trotz bestehender Vorschriften wurde die Vorbereitung auf pandemische Lageentwicklungen vernachlässigt. Das geschah in aller Transparenz und wurde in Berichten auch festgehalten. Dennoch befolgten die Verantwortungsträger die vorgeschriebene Lagerhaltung essenzieller Medizinprodukte nicht. Es ist ein Staatsversagen am dümmsten Ort. Umso erstaunlicher ist dieses Versagen, da der Staat entgegen anderslautenden Unkenrufen alles andere als kaputtgespart wird. Das zeigt sich exemplarisch beim in der derzeitigen Situation besonders geforderten Bundesamt für Gesundheit (BAG). Dieses verfügte nämlich über Ressourcen für diverse zweifelhafte Projekte. Die Palette reicht von einem ausführlichen Bericht inklusive eigener Website über das Lüften von Schulzimmern («Regel 6.: Keine Gegenstände auf den Fenstersims stellen – sie erschweren ein vollständiges Öffnen der Fenster.») bis zur Lancierung einer «Velo-Mittwoch-App»: eine fragwürdige Priorisierung der bisherigen staatlichen Gesundheitsaktivitäten angesichts des von der Bundesverfassung geforderten Schutzes der Bevölkerung.

Es gibt auch eine private Verpflichtung

Erfreulich ist, dass das BAG auch die individuelle Selbstverantwortung des Bürgers anerkennt: mit einschlägigen Hygienevorschriften fürs Händewaschen (die eigentlich seit Kindesbeinen für jedermann gelten müssten) bis zum neudeutschen «Social distancing», dessen Umsetzung geselligen Jassrunden wohl noch etliche Mühe bereiten wird. Doch mit der privaten Selbstverantwortung in pandemischen Lagen ist es nicht so weit her: Am vergangenen Wochenende versammelten sich in Madrid 350’000 und in Barcelona 200’000 Personen. Und in Deutschland gab es Bundesligaspiele vor über 50’000 Zuschauern.

Um der pandemischen Lage Herr zu werden, sollte der liberale Staat seinen primären Fokus auf den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung legen, nicht in Panikreaktionen, sondern in bereits jahrelang vorbereiteten Szenarien in partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, der gerade auch in Krisenzeichen mit seiner Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Das entbindet nicht vor individueller Verantwortung. Ansonsten dürfte der Ruf nach einschränkenderen, wenn nicht gar illiberalen Massnahmen immer lauter hörbar werden.