Die Transportunternehmen erwägen Tariferhöhungen und die Abschaffung von Rabatten. Insbesondere die Generalabonnemente (GA) sollen verteuert werden. Im Interview mit Helmut Stalder in der NZZ erklärt Daniel Müller-Jentsch, weshalb eine solche Tarifanpassung sinnvoll ist.

Helmut Stalder: Das Generalabonnement soll gemäss den Plänen von CH-Direct bald um zehn Prozent aufschlagen und neu in der 2. Klasse 4250 Franken kosten. Ist das GA heute zu billig?

Daniel Müller-Jentsch: Ich halte diese Tarifanpassung beim GA für längst überfällig und begrüssenswert. Das Hauptproblem am Generalabonnement ist seine Anreizwirkung als Flatrate, denn jede zusätzliche Fahrt ist für den Inhaber kostenlos. Ohnehin sind die Tarife im öffentlichen Verkehr generell zu niedrig. Bei einer Gesamtkostenrechnung, Investitionen eingeschlossen, liegt der Kostendeckungsgrad des Schweizer Schienenverkehrs bei etwa 40 Prozent. Also trägt die Allgemeinheit mehr als die Hälfte der vom Nutzer verursachten Kosten. Eine leichte Preiserhöhung des GA ist also geboten.

Was haben Sie gegen das GA?

Durch die Subvention insbesondere der rund 490’000 GA-Besitzer wird eine Form von Übermobilität geschaffen, ein Überkonsum an Bahnfahrten. In der Summe wird uns dies zum verkehrspolitischen Verhängnis: Der Personenverkehr auf der Schiene hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten beinahe verdoppelt und wuchs damit weitaus schneller als die Bevölkerung und die Wirtschaft des Landes.

Eigentlich sollte doch der mehr bezahlen, der mehr fährt . . .

In der Tat verstossen wir bei den öV-Tarifen gegen den Grundsatz der Kostenwahrheit und das Verursacherprinzip, die sonst gemeinhin respektiert werden. Gegen eine zielgerichtete Subventionierung bedürftiger Gruppen wie Schüler und Studenten ist nichts einzuwenden. Aber eine flächendeckende Subventionierung in einem solchen Umfang ist weder volkswirtschaftlich noch verkehrspolitisch zu rechtfertigen. Ein Beispiel ist das GA mit einem Pauschaltarif für alle Einkommensgruppen, vom Berufspendler bis zum Freizeitnutzer. Es ist falsch, Vielfahrer mit einer GA-Flatrate zu subventionieren.

Kostenwahrheit im öV wird durch nostalgische Idealisierung der Bahn verhindert. Roter Pfeil RAe 2/4 1001 der SBB. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Welche Folgen hat dies?

Die jährlichen Kosten des Bahnsystems gehen in die Milliarden und werden auch ohne Tariferhöhung am Ende vom Bürger bezahlt, direkt als Bahnkunde oder indirekt als Steuerzahler. Wegen des durch Subventionen angefachten Verkehrswachstums muss das Verkehrssystem alle paar Jahre mit Milliardenspritzen weiter ausgebaut werden. Das Problem wird durch die Verkehrsspitzen noch verstärkt. Während der drei bis vier Stunden dauernden Rushhour ist das Verkehrssystem heute am Anschlag, ausserhalb fahren die Züge aber halb leer durch die Landschaft. Über die Woche bleiben zwei Drittel der Sitzplätze bei den SBB unbesetzt. Wenn man aber den Verkehr gleichmässiger verteilen würde, müsste die Infrastrukturkapazität nicht ständig mit Steuergeld erweitert werden.

Was wäre die richtige Ausrichtung des Tarifsystems?

Mehr Kostenwahrheit, das heisst höhere Billettpreise, die Hinterfragung der heutigen Tarifgestaltung mit Flatrate und Mengenrabatt, dazu gehört insbesondere das GA. Das Entscheidende ist jedoch die zeitliche Differenzierung mit höheren Tarifen in den Stosszeiten. Das Ziel müsste sein, mit den Tarifen steuernd auf die Nachfrage einzuwirken. Wenn man Rabatte gewährt, dann nur für Fahrten in den Talzeiten.

Aber Pendler können nicht einfach ausweichen. Ist es nicht ungerecht, sie mit höheren Tarifen zu Spitzenzeiten zu bestrafen?

Ich würde es eher umgekehrt sehen: Pendler sind heute in mehrerer Hinsicht finanziell privilegiert, durch die allgemeine Subventionierung des Verkehrs, durch den Mengenrabatt bei den Abos, den Pendlerabzug bei den Steuern. In der Hotellerie und im Flugverkehr sind zeitlich differenzierte Tarife eine Selbstverständlichkeit.

Wenn das GA teurer wird, steigen dann nicht mehr Leute um aufs Auto?

Theoretisch ist diese Sorge nachzuvollziehen, aber in der Praxis bewirken Preisanpassungen in der diskutierten Grössenordnung keine substanziellen Verschiebungen. Dafür spricht die Tatsache, dass die Schwankungen bei den Benzinpreisen der letzten Jahre auch nicht zu grossen Veränderungen im Modalsplit geführt haben. Zehn Prozent teurere GA führen bestimmt nicht zu einem Exodus der Pendler aus den Zügen.

Dieses Interview ist am 9. Mai 2019 in der NZZ erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Ein erster Schritt zu einer neuen Tarifstruktur

 

Von allen Seiten hagelt es Proteste wegen der Pläne von CH-Direkt, das Generalabo (GA) ab 2021 um 10 Prozent auf 4250 Franken zu verteuern. Zu CH-Direkt gehören neben den SBB rund 250 Transportunternehmen des öffentlichen Verkehrs. Unter dem Titel «Das Auto fährt dem Zug davon» verweist u.a. das «St. Galler Tagblatt» auf die wachsende Kostenschere zwischen öV und Privatverkehr. Wenn eine vierköpfige Familie mit einem günstigen Occasionsauto statt mit einer teuren Karosse unterwegs sei, fahre sie finanziell schon heute besser als mit dem GA. Mit der angedachten Preiserhöhung werde die Strasse gegenüber dem öV noch attraktiver.

Der dazu befragte Verkehrsexperte Daniel Müller-Jentsch von Avenir Suisse rechnet damit, dass in Zukunft die Transportkosten pro Personenkilometer für die Strasse im Verhältnis zur Schiene tendenziell weiter fallen werden: «Im Strassenverkehr beobachten wir eine deutlich höhere Innovationsdynamik. Beispiele sind moderne Taxidienste, Elektromotoren oder autonom fahrenden Autos». Der öffentliche Verkehr hinke hinterher: «Die Politik schnürt immer wieder neue Milliardenpakete für den Ausbau der Bahninfrastruktur, anstatt das Potenzial der bestehenden besser zu nutzen», wird er in dem Artikel zitiert.

Müller-Jentsch gibt zu bedenken, dass die durchschnittliche Sitzauslastung bei den SBB im Fernverkehr nur 32 Prozent betrage. Die schlechte Auslastung sei ein strukturelles Problem, das sich nur durch variable Tarife lösen liesse. Nur wenn es gelinge, die Nachfragespitzen zu glätten und die Auslastung in Nebenverkehrszeiten zu erhöhen, könne der öV sein massives Kostenproblem in den Griff bekommen. «So gesehen, wäre ein höherer GA-Preis nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer neuen Tarifstruktur.»