In der Fragestunde des Nationalrats dieser Woche erklärte der Bundesrat, dass von den eingegangenen Infektionsmeldungen nur rund ein Drittel eine Angabe zum vermuteten Ansteckungsort enthalten. Gerade mal sieben Prozent stecken sich gemäss Selbstdeklaration in Bars oder Restaurants an. Gleichwohl werden Restaurant- und Ladenschliessungen ab 19 Uhr behördlich angeordnet, ebenso wie ein Verbot von Sonntagsverkäufen (die der Glättung der Kundenfrequenzen dienen würden).
Politik im Daten-Blindflug? «Über die ‹Läden› als Ansteckungsort geben die Daten keine Auskunft» musste selbst der federführende Departementsvorsteher in der Ratsdebatte eingestehen. Eine Auswertung der Auswirkungen der jüngsten kantonalen Teil-Lockdowns in der Romandie wäre hier – vor der bundesrätlichen Entscheidungsfindung – lehrreich gewesen: Genf schloss den Detailhandel, die Fallzahlen sanken. Doch auch im Wallis und Waadt gingen die Ansteckungszahlen zurück. Nur: Hier wurde keine Schliessung der Läden verfügt. Und selbst im Lockdown im Frühling waren krankheitsbedingte Ausfälle des Personals in den geöffneten Lebensmittelläden nicht höher als im Vorjahr. Läden mit Schutzkonzepten sind offensichtlich keine bedeutenden Ansteckungsorte.
Dennoch ertönt lauthals auf allen Kanälen die Forderung nach weiteren Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Obwohl das gemeinsame Singen in Coronazeiten verboten ist, drängt ein Chor von Gesundheitspolitikern und Wissenschaftern auf einen zweiten Lockdown.
Die Warnrufe der Gesundheitsbehörden sollten nicht vom Staatsversagen ablenken, das in der zweiten Infektionswelle immer offenkundiger wird. So wurde es bis dato versäumt, eine funktionierende und effiziente «Test and Trace»-Infrastruktur aufzubauen (wie von Avenir Suisse bereits im April 2020 postuliert), wodurch das Virus frühzeitig durch umfangreiche Tests im Umfeld infizierter Personen aufgespürt und in ein Nischendasein gezwungen werden könnte. Die technischen Möglichkeiten wären zwar vorhanden, aber administrativer und digitaler Amateurismus herrscht hierzulande vor.
Das Gegenbeispiel ist Japan: «Trainiert» von Tuberkulose-Erfahrungen werden dort «Contact Tracer» rasch auf Covid-19-Infektionsherde angesetzt. Japan gehört damit zu den Top-Performern bei der Bewältigung von Covid-19. Demgegenüber sind Fähigkeiten und Kapazitäten für Contact Tracing in der Schweiz bis heute nicht genügend ausgebaut. Die Swiss-Covid-App funktioniert nicht einwandfrei, der Code wird nur von einem Bruchteil der Infizierten eingegeben.
Auch das Testen erfolgt bis dato nicht flächendeckend. Demgegenüber ordneten Schweizer Gesundheitsbehörden über die Sommermonate hinweg 10-tägige Quarantänemassnahmen für hunderttausende Schweizer Bürgerinnen und Bürger an – obwohl diese vom Virus gar nicht infiziert waren.
Man verordnete den Lockdown in der ersten Welle auch mit dem Argument, dass Zeit gewonnen werden muss, um die Infektionskurve abzuflachen («Flatten the curve»), so dass es nicht zu einer Überlastung der Spitalkapazitäten kommt. Im Frühling wurden dazu die Kapazitäten kurzfristig auf 1500 Intensivbetten ausgebaut. Doch acht Monate später ist die Kapazität tiefer als im Frühling, und die Personalumschulung und Weiterbildung hat nur in Ansätzen stattgefunden.
Statt die Bevölkerung auf den scheinbar unvermeidlichen erneuten Lockdown «einzustimmen», sollten zurzeit Vorbereitungen für eine rasche Impfung der Bevölkerung Priorität haben. Am 21. Dezember wird die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) über die Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer entscheiden. Anfang Dezember hat bereits Grossbritannien dem Corona-Impfstoff die Notfallzulassung erteilt. Die Schweiz wartet dagegen weiterhin auf die Zulassung durch Swissmedic. Der Bürger fragt sich, was in den Schweizer Genen so anders ist, dass wir uns diesmal nicht auf die Entscheide der EMA verlassen können. Der Swiss Finish macht offensichtlich auch vor einer Notsituation nicht halt.
Die Weihnachtszeit soll Anlass zu Hoffnung sein: Die grösste Hoffnung liegt auch hierzulande in der Zulassung eines wirksamen Impfstoffs. Ein weiteres Staatsversagen kann sich die Schweiz, die immerhin das zweitteuerste Gesundheitswesen unterhält, definitiv nicht mehr leisten.