Das Wehklagen in Teilen der helvetischen Medien war deutlich hörbar, nachdem sich die bürgerlichen Parteien am 30. April die Mehrheit in der Genfer Kantonsregierung zurückgeholt hatten. So war etwa von «bürgerlicher Dominanz» oder von der «Gängelei der linken Städte durch die rechten Kantone» die Rede. Politologen der Universität Lausanne kamen in einer am Folgetag publizierten Analyse zum Schluss, die rechten Parteien hätten eine fast vollständige Hegemonie über die politischen Entscheidungen in den Kantonen. All diese Voten sind ziemlich fragwürdig:
Erstens sind mit «rechts» oder eben «bürgerlich» alle Parteien gemeint, die sich nicht explizit links verorten – also neben SVP und FDP auch die Mitte und sogar die Grünliberalen (GLP). Da ist es kaum überraschend, dass fast alle Kantone mehrheitlich bürgerlich regiert werden.
Zweitens erweckt die mediale Aufregung fälschlicherweise den Eindruck erdrutschartiger Veränderungen. Davon kann wie fast immer in der Schweizer Politik nicht die Rede sein. Rot-Grün stellt zurzeit zwar nur noch im Kanton Jura die Mehrheit in der Regierung. Das ist aber nur ein Kanton weniger als im langjährigen Durchschnitt. Insgesamt haben linke Parteien ihre Mandate in Kantonsregierungen seit 1999 leicht steigern können.
Drittens geht dabei vergessen, dass das Parteibuch allein noch keine Politik macht. Parteien und ihre Vertreter pflegen zwar ideologische Ideale, sie passen ihre thematischen Positionen aber immer wieder dem gesellschaftlichen Wandel und dem aktuellen Parteienspektrum an. Erst vor drei Wochen hat eine Analyse des Forschungsinstituts Sotomo genau solche Veränderungen aufzeigt. Namentlich die Parteien in der Mitte des politischen Spektrums sind im vergangenen Jahrzehnt nach links gerutscht. Den grössten Sprung verzeichnet die Mitte – also jene Partei, die weiterhin die meisten kantonalen Regierungsmitglieder stellt, nämlich ein Viertel. Neu liegt sie im Zentrum des Links-Rechts-Spektrums und damit ähnlich weit von der SVP am rechten und der SP und den Grünen am linken Pol entfernt.
Eine Beurteilung der politischen Machtverhältnisse in den Kantonen anhand der Anzahl Vertreter traditionell bürgerlicher Parteien greift also eindeutig zu kurz. Je nach Sachthema sind in den Kantonsregierungen Mitte-Links-Mehrheiten häufig – rein rechnerisch verfügen Rot-Grün und Zentrumsvertreter der Mitte, GLP oder EVP in 16 Ständen über eine Regierungsmehrheit. Ohne eine solche wären Entscheide wie etwa die (fehlgeleitete) Förderung von E-Ladestationen im Kanton Zürich kaum vorstellbar. Ferner verfügt die Schweiz über weitreichende demokratische Instrumente. So hat etwa das Initiativrecht dazu geführt, dass die «bürgerlichen» Kantone Tessin und Genf mit dem Mindestlohn ein klassisch «linkes» Anliegen eingeführt haben.
Wer lokale Selbstbestimmung fordert, muss sich für den Föderalismus einsetzen
Diese Entwicklung sollte linksurbane Kreise eigentlich beruhigen. Stattdessen bemühen sie ein dichotomes Narrativ der schweizerischen Parteienlandschaft, das an der Realität vorbeizielt. Zudem entbehren die geäusserten Sorgen um die Rechte der Städte nicht einer gewissen Ironie. Geraten die eigenen Vorhaben durch kantonale Vorhaben in Gefahr, lohnt es sich plötzlich, für föderale Strukturen einzustehen. Dass urbane Interessen weniger Beachtung finden, haben sich die Städter auch selbst zuzuschreiben. Der Stadt-Land-Graben hat sich nämlich vergrössert, weil das politische Profil des urbanen Raums deutlich linker geworden ist (und nicht etwa die kantonalen Profile rechter).
Liberale nehmen die oben beschriebenen Verschiebungen mit Sorge zur Kenntnis. Weniger, weil die Politik selten in ihrem Sinn ist, denn wo die Kantone autonom sind, sollen sie frei entscheiden. In einem föderalen Staat gilt es, den Ideenwettbewerb auszuhalten. Störend ist vielmehr die schwindende Aussicht auf eine Kehrtwende bei der wachsenden Verflechtung und Zentralisierung von Aufgaben. Verschiebt sich die Bevölkerung und mit ihr die Parteienlandschaft politisch nach links, wird die angebliche Überlegenheit zentraler Politiklösungen noch häufigerpropagiert. Besonders der untersten Staatsebene droht dadurch Ungemach: Die Gemeinden können bereits heute über einen grossen und zunehmenden Teil ihrer Ausgaben nicht (mehr) frei entscheiden.
Damit gerät ein Erfolgsrezept der Schweiz, die bürgernahe Leistungserbringung, zunehmend in Gefahr. Föderalismuskritische Kreise müssen die grundsätzliche Bedeutung kommunaler Selbstbestimmung vermehrt erkennen. Sonst droht den Gemeinden die stetige Übersteuerung durch den Kanton. Das schwächt den Föderalismus und die Schweiz.