Leidenschaftlich streitet die politische Schweiz dieser Tage über ihr liebstes Thema, die Beziehungen zur Europäischen Union. Am 27. September ist es wieder so weit: Der Souverän kann an diesem Tag zum dreizehnten Mal seit 1992 ein europapolitisches Verdikt abgeben, diesmal mit einem Ja oder Nein zur Begrenzungsinitiative (BGI).

Diese will die gegenseitige Personenfreizügigkeit (PFZ) zwischen der Schweiz und der EU kündigen. Befürworter der BGI warnen denn auch eindringlich vor einer 10-Millionen-Schweiz. Ihren Plakaten begegnet man vorab im dünn besiedelten ländlichen Raum.

Ironie der Geschichte: Vor über 30 Jahren erklärte Ursula Koch, dannzumal prononciert linke Zürcher SP-Stadträtin und spätere Präsidentin der SP Schweiz: «Die Stadt ist gebaut».

Im Jahr 2020 erhält jeder Schweizer Haushalt ein Extrablatt der nationalkonservativen BGI-Befürworter, das in grossen Lettern kritisiert, von der Schweizer Bauwirtschaft seien in den letzten Jahren zu viele Wohnungen erstellt worden. «Die Schweiz nicht weiter zubetonieren!», heisst das in der Sprache der Initianten. Es ist offensichtlich: Die Wachstumsmüdigkeit der politischen Pole trifft sich.

Zubetonierte Schweiz oder wohlstandssichernde Entwicklung? Neue Wohn- und Geschäftshäuser in Zürich West. (Wikimedia Commons)

Dass Bevölkerungswachstum auch ein Gütesiegel für einen attraktiven Standort ist, geht in der Diskussion unter. Wer mit «Füllungskosten» gegen die PFZ-Zuwanderung argumentiert, diese aber nicht zu quantifizieren vermag, dem sei folgende ökonomisches Faktum entgegengehalten: Das mittlere jährliche Wachstum des realen BIP-pro-Kopf betrug von 1992 – 2002 0,66 Prozent, seit Einführung der PFZ ganze 1,02 Prozent jährlich, ein Zunahmefaktor gegenüber der Vergleichsperiode von 1,54. Würde der Wohlstandskuchen nicht grösser, nähmen Verteilkämpfe zu. Das ist aber nicht der Fall.

Die PFZ-Zuwanderung ist konjunkturell, d.h. vom Arbeitsmarkt getrieben, sie wird aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. 2021 werden hierzulande mehr Erwerbspersonen den Ruhestand erreichen, als junge Erwachsene in den Arbeitsmarkt eintreten. Diese Lücke wird inskünftig grösser, ausser das Regelrentenalter würde (endlich!) an die demografischen Realitäten angepasst. Doch politisch fokussiert «Bundesbern» derzeit lieber auf die Senkung des Stimmrechtsalters als auf die Erhöhung des Rentenalters.

Die Mehrheit der meist gut qualifizierten PFZ-Zuwanderer ist heute in der Altersgruppe von 23 bis 34 Jahren zu finden. Demgegenüber wandern ab 55 Jahren mehr Ausländer aus als ein. Die wachsende Diskrepanz zwischen Aus- und Eintritten der einheimischen Bevölkerung am Arbeitsmarkt vermag die PFZ – zumindest teilweise – zu kompensieren.

Dazu kommt: Wer nach mehr staatlicher Steuerung und Kontrolle der Ein- und Auswanderung ruft, vergisst, dass der Staat grundsätzlich ein schlechter Organisator der Migration ist. Weder in der Asylpolitik noch bei den bürokratisch-aufwändigen Drittstaaten-Kontingenten vermögen die Behörden zu überzeugen. Der altbekannte Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» würde sich darum auch bei der Ausgestaltung der Arbeitsmigration mehr lohnen.

Dieser Beitrag ist am 17. September 2020 in der «Handelszeitung» erschienen.