«La Regione»: Warum war es Ihrer Meinung nach wichtig, für AHV 21 zu stimmen?

Jérôme Cosandey: Es geht nicht nur um den finanziellen Aspekt oder die Anhebung des Rentenalters für Frauen. Die AHV 21 ermöglicht es, unsere Altersvorsorge besser an die Entwicklung der Gesellschaft anzupassen – was im Übrigen auch bei der Reform der zweiten Säule nötig ist. Unsere Sozialversicherungen spiegeln immer noch die Welt der 1980er Jahre wider: Junge Mütter gaben ihren Arbeitsplatz auf, um sich um das Kind zu kümmern. Nach ein paar Jahren nahmen sie die berufliche Tätigkeit wieder auf, aber vielleicht nur in Teilzeit. Anders als heute war es auch nicht üblich, gleichzeitig in verschiedenen Jobs tätig zu sein. All dies wird im Rahmen der zweiten Säule nicht berücksichtigt.

Bleiben wir bei den AHV: Was ist gut an dieser Reform?

Als die AHV 1948 gegründet wurde, gingen Frauen und Männer im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand. Seither wurde das Rentenalter für Frauen mehrfach gesenkt und wieder angehoben. Die Angleichung, die jetzt vorgenommen wird, ist wichtig. Frauen haben in der Schweiz im Durchschnitt eine um drei Jahre längere Lebenserwartung als die Männer, entsprechend beziehen sie länger eine Rente.

Gefragt ist Solidarität der Babyboomer mit der jüngeren Generation. (Krists Luhaers, Unsplash)

Für eine weitere Reform der AHV mangelt es nicht an Vorschlägen: Anhebung des Rentenalters für alle auf 66 Jahre, 13. AHV-Rente, Umverteilung von BVG-Geldern in die erste Säule usw. Was erscheint Ihnen am sinnvollsten?

Bislang konzentrierte sich die Debatte über die AHV auf die Differenz zwischen Männern und Frauen. Die Angleichung des Renteneintrittsalters könnte es nun leichter machen, über die Solidarität zwischen Aktiven und Rentnern und damit auch über andere Rentenmodelle zu sprechen. Ich hoffe es jedenfalls. Warum sollte man beispielsweise nicht zu einem Modell übergehen, bei dem die Anzahl der Jahre zählt, in denen ein Arbeitnehmer Beiträge gezahlt hat? Auf diese Weise könnten u. a. Unterschiede in der Studiendauer berücksichtigt werden. Oder noch einmal: In der Schweiz, einem der Länder mit der höchsten Lebenserwartung, geht man mit 65 Jahren in den Ruhestand; in den meisten OECD-Ländern hingegen hat man das Renteneintrittsalter bereits über diese Schwelle hinaus angehoben oder beschlossen, dies zu tun. Ich halte es für normal, dass man, wenn man länger lebt, auch länger arbeitet. Über die konkreten Modalitäten sollten wir natürlich diskutieren.

Die AHV 21 flexibilisiert den Bezug der AHV-Rente, ein Aspekt, der bisher im Hintergrund blieb. «Ruhestand à la carte» – ist das die Zukunft?

Mit der Abstimmung haben wir zwei wichtige Fortschritte erreicht. Bisher konnten Sie nur einmal im Jahr beschliessen, in den Ruhestand zu gehen, in Zukunft werden Sie dies jeden Monat tun können. Und dann können diejenigen, die über 65 Jahre hinaus arbeiten, ihre Rente verbessern, was bisher in dieser Form nicht der Fall war. Der von der AHV 21 vorgesehene Mechanismus ist sehr wichtig: Er wird es ermöglichen, die besonderen Bedürfnisse jedes Einzelnen besser zu berücksichtigen.

Alle schauen jetzt auf die Reform der zweiten Säule. Das Dossier liegt im Parlament auf Eis. Was sollte Ihrer Meinung nach Priorität haben?

In einem Punkt sind sich alle einig: Der Umwandlungssatz muss gesenkt und die daraus resultierende Rentensenkung kompensiert werden, damit das Rentenniveau erhalten bleibt. Eines wird in der politischen Debatte jedoch oft vergessen: 85% der Pensionskassen in der Schweiz bieten bereits Leistungen an, die über den obligatorischen Teil hinausgehen, und haben damit die Reform vorweggenommen. Deshalb ist es wichtig, dass die Kompensation für eine Senkung des Umwandlungssatzes zielgerichtet ist. Das heisst, sie soll nur denjenigen zugutekommen, die tatsächlich betroffen sind. Der Schutz derjenigen, die in Teilzeit und im Niedriglohnsektor arbeiten, muss verbessert werden. In dem Entwurf, der im Parlament diskutiert wird, würden dagegen alle eine Entschädigung erhalten – auch diejenigen, die durch die Reform keine Verluste erleiden. Das ist zu teuer. Und die Arbeitnehmer, vor allem die Jüngsten, würden dafür zur Kasse gebeten.

Dieses Interview ist am 26. September 2022 in der Tessiner Zeitung «La Regione» in italienischer Sprache erschienen. Das Gespräch führte Stefano Guerra.