In den eineinhalb Jahren seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine wurden fast 10’000 Zivilisten getötet, ein Grossteil davon durch Luftangriffe auf zivile Infrastruktur. Für andere europäische Länder war dies ein Weckruf, denn keines könnte aktuell seine Bevölkerung sowie kritische zivile und militärische Infrastruktur in ausreichendem Masse schützen. Um die vorhandene Fähigkeitslücke zu schliessen, rief Deutschland 2022 die «European Sky Shield Initiative» (ESSI) ins Leben. Dabei handelt es sich vorrangig um eine Beschaffungsinitiative zum Erwerb marktverfügbarer bodengestützter Luftverteidigungssysteme. 18 europäische Staaten haben sich der Initiative angeschlossen. Auch die Schweiz hat im vergangenen Juli eine Absichtserklärung zum Beitritt unterzeichnet und damit innenpolitische Kritik ausgelöst.

Unter dem Schirm …

Ausschlaggebend für die Gründung der ESSI war die voraussichtlich anhaltende Bedrohung durch Russland. Dieses dürfte mittel- bis langfristig sein Raketenarsenal wiederherstellen und auch wenn es der Nato in einem konventionellen Konflikt unterlegen wäre, tragen diese Fähigkeiten zu seinem Erpressungspotential auch unterhalb der Kriegsschwelle bei. Der Begriff «Sky Shield» (Himmelsschild) ist in erster Linie Marketing und mag allzu optimistische Assoziationen wecken – vollständig wie im Harry-Potter-Universum mit seinem «Protego»-Schildzauber lässt sich ein Territorium kaum verteidigen. Sicherlich trägt es aber zur Effektivität bei, wenn mehrere benachbarte Staaten zusammenspannen.

Realistischer ist das Ziel, bei der Beschaffung teurer Systeme zusammenzuspannen und so über Skaleneffekte einen günstigeren Preis zu erzielen. Nebst dem Kauf fallen auch hohe Kosten für Ausbildungen oder Unterhalt an, wo somit Synergieeffekte genutzt werden sollen. Letztlich geht es auch darum, die Abhängigkeit der europäischen Luftverteidigung von den USA zu reduzieren.

… oder im Regen?

Auch wenn die Idee ökonomisch sinnvoll ist, zeigt ein Blick auf die Landkarte, dass ESSI nicht bei allen Nato- und EU-Mitgliedern auf die gleiche Resonanz stösst. Vor dem Hintergrund industriepolitischer Interessen könnte die Festlegung auf bestimmte Systeme zu politischen Spannungen mit Staaten führen, die andere Luftverteidigungsfähigkeiten beschaffen oder schon beschafft haben. Während ESSI für den grossen Abfangbereich (bis 100 km Entfernung) auf das amerikanische Patriot-System setzt, vertrauen Frankreich und Italien auf das europäische SAMP/T. Das verteidigungspolitisch stark an Bedeutung gewinnende Polen wiederum bezieht Patriot direkt und setzt bei den mittleren Reichweiten (bis 35 km) nicht auf das für ESSI vorgesehene IRIS-T SLM aus Deutschland.

Darüber hinaus stellen sich zahlreiche strategische und taktische Fragen. Letztlich geht es darum, wie ESSI als politische Initiative in die bestehenden Luftverteidigungsstrukturen der Nato integriert werden kann. Deren Raketenabwehr wurde zur Vermeidung einer Eskalation explizit nicht auf Russland ausgerichtet, sondern auf Bedrohungen von ausserhalb des euroatlantischen Raumes (z.B. Iran). Insbesondere die Beschaffung von Arrow-3 (Reichweiten über 100 km) ist bis anhin in den Nato-Verteidigungsplänen nicht vorgesehen. Offen bleibt auch die Frage, ob das Potenzial der Initiative ohne Polen mit seiner geografisch wichtigen Lage vollständig ausgeschöpft werden kann.

Chance für die Schweiz?

Der Beitritt der Schweiz zur ESSI mag zwar etwas überraschend gekommen sein, bietet aber bei genauerem Hinschauen einiges an Potenzial, denn auch unser Land hat in der Luftverteidigung grosse Lücken. Im Bewusstsein dieser Schwächen hat sich die Schweiz im vergangenen Jahr ebenfalls für das amerikanische Patriot-System entschieden. Konkret könnte die Schweiz somit bei der Munitionsbeschaffung über ESSI profitieren. Da Patriot aber nur für die Abwehr auf lange Distanz geeignet ist, dürfte die Schweiz auch für die kurze und mittlere Distanz ein Abwehrsystem beschaffen. Sollte das in der ESSI dafür vorgesehene deutsche IRIS-T SLM dafür geeignet sein, könnte es über die Initiative wohl günstiger beschafft werden.

Kritiker wittern bei einer Schweizer Teilnahme an der ESSI neutralitätspolitische Probleme. Da noch nicht klar ist, in welche Richtung die Initiative genau geht, sollte die Schweiz die oben beschriebenen Entwicklungen bezüglich Integration in bestehende Strukturen sicher genau verfolgen. Ein Schritt in Richtung Nato-Beitritt ist eine solche Teilnahme aber nicht. Die Absichtserklärung, die zusammen mit dem ebenfalls neutralen Österreich unterschrieben wurde, sichert der Schweiz zu, dass sie sich im Konfliktfall eines anderen ESSI-Mitgliedes aus den Kooperationsmassnahmen zurückziehen kann.

Eine vollständig autonome Luftverteidigung wäre für die Schweiz grundsätzlich schwierig zu bewältigen. Es ist davon auszugehen, dass im Falle eines drohenden Luftangriffs nicht nur die Schweiz, sondern mindestens auch ihre Nachbarstaaten von der Bedrohung betroffen wären und die Schweiz ihren Luftraum zusammen mit diesen schützen müsste. Der Beitritt zur ESSI anerkennt diese Tatsache und steht für einen sinnvollen und pragmatischen Umgang mit der Neutralität. Gleichzeitig ist es ein Testfall, inwieweit eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Nato und der EU funktionieren kann.

Sicherheit ist nicht gratis

Was heute bereits klar ist: Die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Armee kommt die Schweiz teuer zu stehen. Gemäss Armee werden zwischen 2024 und 2031 allein für Rüstungsbeschaffungen 13 Milliarden Franken benötigt. Entsprechend wird das Armeebudget bis 2030 hochgefahren. Besonders in Zeiten eines angespannten Bundesfinanzhaushaltes steht die Armee deshalb in der Pflicht, ihr Material möglichst kosteneffizient zu beschaffen. Internationale Kooperationen wie die ESSI bieten sich dementsprechend an.

Solange die Schweiz ihre Möglichkeiten hier nicht ausschöpft, sind Massnahmen wie eine vorübergehende Aushebelung der Schuldenbremse zur Rüstungsbeschaffung, wie sie diesen Sommer als Motion im Ständerat vorgebracht wurde, inakzeptabel. Natürlich gilt nach wie vor, dass die Armee die konkurrenzfähigsten Systeme beschaffen soll, ob diese nun Teil der ESSI sind oder nicht. Die Teilnahme an der Initiative schränkt die Entscheidungsfreiheit diesbezüglich aber nicht ein. Die ESSI ist deshalb eine gute Möglichkeit, in einer Zeit, in der die Schweiz international wieder vermehrt unter Druck ist, ein Signal der Kooperationsbereitschaft insbesondere gegenüber den europäischen Partnern auszusenden.