Folgt auf die von US-Präsident Donald Trump verhängten Strafzölle gegen Stahl und Aluminium aus der EU nun das Ende des Multilateralismus? Der Schweiz droht hier grosse Gefahr.
Handelszeitung: Donald Trump hat seine Drohung wahr gemacht: Seit 1. Juni 2018 gelten Strafzölle auf Importe von Aluminium und Stahl aus der EU. Wie wirkt sich das auf die Schweiz aus?
Patrick Schellenbauer: Gegen die Schweiz sind die Zölle seit März schon in Kraft, aber aufgrund der geringen Schweizer Stahl- und Aluminiumproduktion sind die kurzfristigen Auswirkungen volkswirtschaftlich kaum spürbar. Die Schweiz exportiert Stahl im Wert von 57, Aluminium im Wert von 30 Millionen Franken – primär jedoch in die EU und nicht in die USA.
Und längerfristige Folgen?
Mittelfristig gibt es eine grosse Gefahr für die Schweiz, nämlich die Schutzmassnahmen, die sich die EU vorbehalten hat. Zum einen plant die EU Ausgleichsmassnahmen gegenüber den US-Produkten wie Whiskey und Harley Davidson. Zum andern hat die Kommission Schutzmassnahmen für den EU-Binnenmarkt angekündigt, um die eigene Stahlproduktion gegenüber China zu schützen, das infolge der US-Strafzölle seine Überkapazitäten in die EU umleiten könnte. Die Schweiz als Drittstatt wäre von den EU-Schutzmassnahmen direkt betroffen. Ökonomisch wäre das gravierender als die US-Zölle. Die Schweiz müsste also versuchen, bei der EU eine Ausnahme zu erwirken.
Riskiert die EU-Kommission mit den geplanten Gegenmassnahmen eine Eskalation des Handelskonflikts?
Die ganz grosse Gefahr ist natürlich, dass die Situation eskaliert. Handelsdiplomatie ist immer auch Spieltheorie: Man muss einschätzen, wie die Gegenseite reagiert. Macht man nichts, signalisiert man den USA, dass sie weitermachen können. Doch trifft man Massnahmen, riskiert man eine Eskalation. Bei Avenir Suisse halten wir die Entscheidung der EU-Kommission für richtig. Bisher ist es allerdings mehr Symbolpolitik: Sie trifft vor allem Harley-Davidson-Fahrer oder Whiskey-Liebhaber.
Schadet Trumps Protektionismus einer Exportnation wie der Schweiz besonders?
Ja natürlich, aber wenn man die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts ansieht, dann wird klar, dass die USA immer wieder protektionistische und isolationistische Tendenzen hatten. Freihandel auf Augenhöhe und entlang multilateraler Regeln ist für die USA eher die Ausnahme als die Regel. Doch die neue Qualität in der jetzigen Situation ist, dass zum Protektionismus eine harte Machtpolitik – «America First» – hinzukommt.
Warum trifft es gerade Aluminium und Stahl?
Dafür gibt es drei Gründe: Erstens muss Trump seine Wählerbasis in den alten Industrieregionen, im «Rust Belt» bedienen. Zweitens ist die Stahlindustrie eine Basisindustrie, so dass die USA gegenüber der WTO eine scheinbare Legitimität durch die Versorgungs- und sicherheitspolitische Dimension rechtfertigen kann. Allerdings denke ich nicht, dass die WTO dies akzeptieren wird. Drittens gab es in der Stahlindustrie von jeher Handelsauseinandersetzungen, denn Grössenvorteile sind entscheidend. Daraus entstehen oft Überkapazitäten. Aber natürlich geht es auch um China, das in den letzten dreissig Jahren zum wichtigsten Stahlproduzenten geworden ist.
Welche Vorteile bieten Multilateralismus und Handelsliberalisierung einem kleinen Land wie der Schweiz?
Ein grosses Land verfügt über Druckinstrumente, die seine Verhandlungsposition stärken. Für einen relativ machtlosen Kleinstaat hingegen ist ein internationaler Rechtsrahmen, an den sich möglichst alle halten, von grossem Vorteil. Ein noch viel stärkeres Argument ist: Parallel zur WTO gibt es heute grosse und mächtige Handelsblöcke – EU, USA/Nafta, Mercosur, Asean, vielleicht irgendeinmal auch TTIP. Der Welthandel und die Handelsregeln werden zunehmend zwischen den grossen Blöcken entschieden, während die WTO an Bedeutung verliert. Insofern wäre es ein grosser Vorteil für die Schweiz, enger an die EU angebunden zu sein, um die Marktzugänge zu sichern. Das zeigt das aktuelle Beispiel, sollte es zu den Schutzmassnahmen kommen: Wären wir Teil des EU-Binnenmarktes, würden uns die Massnahmen nicht betreffen. Aber wir sind aus Sicht der EU ein Drittstaat. Wenn dies nur ein Vorgeschmack auf eine protektionistische Welle sein sollte, ist das Risiko für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie der Schweiz gross, zwischen die Mühlsteine zu geraten.
Was kann die Schweiz machen: Weitere bilaterale Handelsabkommen oder eine WTO-Reform vorantreiben, wie sie auch vor einigen Tagen Präsident Macron gefordert hat?
Beides, das eine sollte das andere nicht ausschliessen. Der Handel mit den aufstrebenden Volkswirtschaften, mit denen die Schweiz verhandelt, etwa Indonesien, ist wichtig, aber ökonomisch noch klein. Einbussen des Handels mit der EU oder den USA können diese auch mittelfristig bei weitem nicht ausgleichen. Das Interessante an diesen Ländern ist ihr schnelles Wachstum. Ein Revival der WTO wäre absolut in unserem Interesse, aber die Signale der letzten Zeit sprechen dagegen.
In Ihrem Weissbuch stellen Sie fest, dass die Schweiz bei der Binnenmarktverflechtung mit Belgien und Irland an der Spitze liegt, und zwar vor den meisten EU-Staaten. Also in ökonomischer Hinsicht «europäischer als die EU selbst» ist. Wie ist das zu erklären?
Das ist genau der Widerspruch, in dem die Schweiz steckt. Die enorme Verflechtung mit den EU-Ländern betrifft Handelsströme, Migration und Kapitalbeteiligungen. Dies ist einer der Gründe für den hohen Wohlstand der Schweiz. Das Spannungsfeld entsteht eben da: Wir sind fast auf Gedeih und Verderb auf den Zugang zum weltgrössten Binnenmarkt angewiesen. Ökonomisch sind wir eigentlich längst beigetreten – zu grossen Teilen sind wir Teil des EU-Binnenmarkts. Politisch möchte die Schweiz aber ausserhalb der EU bleiben, mit der Folge, dass wir nicht mitentscheiden können. Die logische Konsequenz ist, dass wir gewisse Abstriche bei der Souveränität machen müssen.
Also doch ein EU-Beitritt?
Das haben wir auch in unserem gerade veröffentlichten «Weissbuch Schweiz» aufgezeigt: Wenn der Protektionismus eskaliert oder die Handelsblöcke die Regeln exklusiv untereinander ausmachen, würde das die Schweiz empfindlich treffen. Unsere Exportwirtschaft würde diskriminiert, was letztlich mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden wäre. In diesem Fall müsste ein EU-Beitritt als «vorbehaltener Entschluss» wieder in Betracht gezogen werden. Wir sind überzeugt, dass diese Option dann auch politisch wieder salonfähig würde. Den Beitritt von vorne herein zu tabuisieren, ist nicht im Interesse unseres Landes.
Dieses Interview ist am 1. Juni 2018 auf der Website der «Handelszeitung» erschienen. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.