Im ersten und zweiten Teil dieser Blog-Serie haben wir die immer wieder vorgebrachte Kritik widerlegt, die Schweizer Volkswirtschaft wachse nur noch in die Breite. Der dritte und letzte Teil beabsichtigt, die sehr eindimensional geführte Wachstumsdebatte etwas zu öffnen. Denn der starke Fokus auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf wird der wirtschaftlichen Wohlfahrt hierzulande nicht gerecht. Zuerst soll jedoch noch auf zwei wichtige Aspekte in der Wachstumsdebatte, Demografie und Zuwanderung, eingegangen werden. 

Demografie bremst Wachstum

Obwohl der demografische Wandel seit längerem im Gange ist, wird dessen Einfluss in der Wachstumsdiskussion oft immer noch ignoriert. Indes ist die Erwerbsquote der Gesamtbevölkerung trotz hohen Zuwanderungszahlen inzwischen rückläufig. In der Wachstumsbuchhaltung (vgl. Abbildung 7 im zweiten Teil der Blog-Serie) zeigt sich die Alterung in Form eines sinkenden Anteils der Erwerbs- an der Gesamtbevölkerung. Dieser Effekt betrug 2019 bereits -0,4 Wachstums-Prozentpunkte. Unterschiedliche Studien im Auftrag des Seco schätzen, dass die demografischen Effekte das Pro-Kopf-Wachstum insbesondere bis Anfang der 2030er Jahre um rund einen halben Prozentpunkt pro Jahr reduzieren. Gleichzeitig ist die bereits sehr hohe Arbeitsmarktbeteiligung nur noch begrenzt steigerbar, die Arbeitsleistung pro Kopf dürfte mit der längst rollenden Pensionierungswelle weiter abnehmen. Wenn gleichzeitig die Produktivität nicht mehr frühere Wachstumsraten erreicht, ist ein nur noch schwaches oder allenfalls sogar stagnierendes Pro-Kopf-Wachstum die logische Konsequenz.

Positiver Effekt der Zuwanderung

Im Vergleich zur Demografie ist der konkrete Einfluss der Zuwanderung auf die wirtschaftliche Entwicklung noch schwieriger zu messen. In der Tendenz deutet aber vieles darauf hin, dass die Immigration aus dem EU-Raum nicht nur das Breitenwachstum, sondern auch den durchschnittlichen Wohlstand in der Schweiz positiv stimulierte. Ohne Ausländerinnen und Ausländer wäre die Erwerbsbeteiligung (und damit auch das BIP pro Kopf) der letzten Jahre geringer ausgefallen. Zudem wandern unter der Personenfreizügigkeit überdurchschnittlich gut qualifizierte und vergleichsweise junge Arbeitskräfte in Schweiz ein, deren Fähigkeiten sich zu den einheimischen Arbeitskräften stark komplementär verhalten. Von dieser Qualitätsverbesserung des Humankapitals dürften klar positive Impulse auf die Arbeitsproduktivität ausgehen (vgl. z.B. hier und hier). Die Unternehmen, die um die hierzulande seit jeher knappen Fachkräfte buhlen, wären ohne Immigration in ihrer Entwicklung arg eingeschränkt. Den positiven Faktoren steht allenfalls die im zweiten Teil beschriebene Verlangsamung der Kapitalintensität entgegen. Doch selbst wenn der direkte Effekt der Zuwanderung zweifelhaft wäre: Die Personenfreizügigkeit ist und bleibt eine zentrale Bedingung für den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Sie sorgt damit zweifellos indirekt für ein höheres Produktivitätswachstum.

Ferner suggeriert das im Zusammenhang mit der (zuwanderungsbedingten) Bevölkerungszunahme oft diskutierte «Breitenwachstum» einen nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauch – namentlich des Bodens. Mit der Realität hat das indes nur begrenzt zu tun. So war die Zuwanderung nicht alleiniger Treiber des Arbeitsvolumens in der Schweiz (vgl. auch Teil 2 der Blog-Serie). Gemäss Zahlen des Bundes ist die Beschäftigungszunahme seit 2010 «nur» zu rund 60% bevölkerungsbedingt. 40% des Beschäftigungswachstums ist auf die zusätzliche Erwerbstätigkeit der Frauen (und ein wenig der älteren Männer) zurückzuführen. Weil in der gleichen Periode auch die Zahl der Grenzgänger stark zunahm, dürfte weniger als die Hälfte der höheren Erwerbstätigkeit hierzulande effektiv eine Arbeitsmigration (mit Schweizer Wohnsitz) bedingt haben. Zudem: Die Schweiz weist im internationalen Vergleich einen äusserst schonenden Umgang mit der knappen Ressource Boden auf. Über die letzten Jahre gelang eine signifikante Verdichtung der hiesigen Siedlungsräume.

Alleiniger Fokus auf BIP zielt an Realität vorbei

Die Schweiz wächst. Und dies nicht nur in die Breite. Allerdings sind die (Produktivitäts-) Wachstumsraten im internationalen Vergleich seit Jahrzehnten zwar robust, aber eher mager. Zahlreiche Länder wachsen schneller. Gleichzeitig zählt das Land zu den innovativsten und wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt, der Wohlstand ist gross und breit gestreut. Wie passt das zusammen?

Der starke Fokus auf das BIP als alleinige Zahl birgt die Gefahr, Wesentliches aus den Augen zu verlieren und kann Fehlinterpretationen hervorrufen. Einerseits bestehen Messprobleme: Strukturelle Besonderheiten verzerren das Bild zulasten der Schweiz. Andererseits muss eine seriöse ökonomische Analyse auch andere Indikatoren in die Beurteilung miteinbeziehen. Damit ist nicht primär die jahrzehntealte Kritik am BIP als Wohlfahrtsmass gemeint. Das BIP hat seine Berechtigung als Leitindikator – valable Alternativen gibt es kaum. So korreliert das BIP stark mit einer Vielzahl von anderen Indikatoren zum (immateriellen) Wohlstand wie etwa Lebensqualität und Gesundheit. Doch seine Bedeutung sollte in der Wachstumsdebatte nicht überstrapaziert werden. Die wirtschaftliche Wohlfahrt hängt auch von weiteren Faktoren ab. 

Wir sind reicher als vom BIP berechnet

Die Berechnungsweise des BIP dürfte den Schweizer Wohlstand und dessen Wachstum deutlich unterschätzen, weil Verbesserungen der so genannten «Terms of Trade» (Verhältnis von Export- und Importpreisen) nicht adäquat berücksichtigt werden. Die Schweizer Exporte wurden über die Zeit immer hochwertiger, die Frankenaufwertung konnte zu einem beträchtlichen Teil an die Kunden weitergegeben werden. Demgegenüber sanken die Preise der in die Schweiz importierten Güter und Dienstleistungen, werden bei der realen BIP-Berechnung aber zu konstanten Preisen abgezogen. Für die gleiche Menge Exporte können mehr Importe finanziert werden. Das macht uns wohlhabender, selbst wenn das BIP unverändert bleibt. Das Wohlstandswachstum dürfte deshalb über Jahre systematisch unterschätzt worden sein. Bei einer Berücksichtigung der Terms-of-Trade-Gewinne fällt das Pro-Kopf-Wachstum – je nach Berechnungsweise – um mehrere Zehntel-Prozentpunkte pro Jahr höher aus. In den Jahren vor der Corona-Pandemie waren die Terms of Trade gemäss Zahlen der OECD allerdings wieder rückläufig.

Wirtschaftliche Wohlfahrt in einem breiteren Kontext

Wie man das BIP immer rechnet und korrigiert: Es ist – auch in Pro-Kopf-Werten – kein optimales Mass für die effektiven Wohlstandseffekte. Das BIP misst die produktive Leistung einer Wirtschaft und sagt damit nur limitiert etwas über die Einkommenssituation und die breiter gefasste Wohlfahrt der einzelnen Haushalte aus. Von Bedeutung ist, welcher Anteil der Wertschöpfung überhaupt bei den Haushalten ankommt. Während in anderen Ländern die Kapitaleinkommen an Bedeutung gewonnen haben, fliesst in der Schweiz ein stabiler Anteil von rund 70% des Volkseinkommens an die Lohnempfänger. Gemäss Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stieg das teuerungsbereinigte Gesamteinkommen pro Kopf seit 2002 um 18%. Gleichzeitig ist die Einkommensverteilung über Jahrzehnte hinweg extrem stabil und egalitärer als anderswo. Dies trifft besonders auf die Markteinkommen zu, die so ausgeglichen verteilt sind wie fast nirgends. Ebenfalls zum hiesigen Wohlstand steuern die beträchtlichen akkumulierten Vermögen bei.

Die positive und breite Entwicklung des Wohlstandes zeigt sich auch bei den Löhnen und den verfügbaren Einkommen (Abbildung 12). Diese stagnierten zwar zu Beginn der 2000er Jahre, nahmen anschliessend aber wieder Fahrt auf. Im OECD-Vergleich profitieren die hiesigen Arbeitnehmenden von den kaufkraftbereinigt höchsten Löhnen. Ferner kennt die Schweiz eine rekordhohe Erwerbsbeteiligung und eine rekordtiefe Arbeitslosenquote. Die Wirtschaft schafft es, die erwerbsfähige Bevölkerung – auch die leistungsschwachen und wenig qualifizierten Personen – in hohem Mass in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Was wünschenswert – für die Schweizer Produktivitätsstatistik aber nachteilig ist. – Ach ja, die Schweiz zählt gemäss dem World Happiness Report auch zu den glücklichsten Nationen der Welt. 

Fazit: Wohlstand wächst – Herausforderungen bleiben

Die simplifizierte Darstellung, wonach das wachsende BIP unter starker Zuwanderung auf immer mehr Köpfe verteilt wird und der Pro-Kopf-Wohlstand deshalb stagniert, zielt an der Realität vorbei. Die Schweiz schafft auch pro Kopf weiterhin breit verteilten Wohlstand; die hiesige Wirtschaft erwies sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte als äusserst resilient. Die Zuwanderung sichert dringend benötigte Fachkräfte, stützte das Pro-Kopf-Wachstum über die Erwerbsbeteiligung und stimuliert die Produktivität langfristig über ein verbessertes Humankapital. Es braucht schon viel Fantasie, anzunehmen, dass die in den ersten beiden Blogs diskutierte positive Trendumkehr nicht zumindest partiell mit dem verbesserten europäischen Marktzugang und der qualifizierten Erwerbsmigration in Verbindung steht. Hohes Wohlstandsniveau, Exporterfolg, viele Konzernzentralen, Ranking-Spitzenplätze und hohe Einwanderungszahlen zeugen von der Attraktivität der Schweiz – obschon seit Jahrzehnten über eine allfällige Wachstumsschwäche diskutiert wird.

Man sollte die Entwicklung indes auch nicht verklären. Die Wachstumsraten sind stetig, aber nicht berauschend und können in Kombination mit dem hohen Wohlstandsniveau dazu verleiten, Reformen hinauszuzögern und von der Substanz zu leben. Gleichzeitig verschärft niedriges Wachstum die Verteilungsprobleme. Weil aufgrund der demografischen Entwicklung die Bedeutung der Arbeitsproduktivität für das Wachstum zentral bleibt, ist deren Steigerung (z.B. über verstärkten Wettbewerb auf dem Binnenmarkt) und das Schaffen bzw. Erhalten möglichst hoher Arbeitsanreize (z.B. über die Individualbesteuerung) von wesentlicher Bedeutung.

Es ist legitim und wichtig, Quantität und Qualität des Wachstums zu hinterfragen. Allerdings sollte diese Diskussion auf den richtigen Zahlen und Fakten basieren. Dazu soll die vorliegende Blog-Serie ihren Beitrag leisten.