Jérôme Cosandey erklärt in einem Interview mit Carla Palm in der «Finanz und Wirtschaft», warum die AHV-Reform so wichtig ist. Er plädiert dafür, dass auch die anderen Vorsorgesäulen flexibler werden. Mit Blick auf steigende Gesundheitskosten im Alter müssen wir uns zudem ein System überlegen, mit dem die Alterspflege ökonomisch für die Gesellschaft tragbar wird.

Carla Palm: Herr Cosandey, wie schlimm steht es nach der Aktien- und Obligationenbaisse um unsere Vorsorge?

Jérôme Cosandey: Wir haben in der Schweiz ein Dreisäulensystem, jede Vorsorgesäule ist anders finanziert. Die AHV basiert auf Lohnbeiträgen und hängt daher von der Schweizer Konjunktur ab. Die zweite und die dritte Säule sind im Kapitaldeckungsverfahren organisiert und damit den Kapitalmärkten ausgesetzt. Damit sind sie international diversifiziert, aber wenn an den Aktien- und den Obligationenmärkten etwas passiert, sind sie am ehesten betroffen, vor allem die zweite Säule.

Wie stellt sich die Lage dar?

Wir hatten Glück im Unglück. Ende Dezember 2021 vermeldeten die Pensionskassen ein Allzeithoch bei ihren Reserven, der Deckungsgrad lag bei 119%. Dann kamen im Frühling die Ukrainekrise und die steigenden Zinsen. Danach ist dieser Puffer wie Schnee an der Sonne geschmolzen. Im Juni betrug der Deckungsgrad nur noch 103%. ­Immerhin keine Unterdeckung, das ist zunächst einmal eine gute Nachricht.

Nun kommt die Inflation hinzu, was bedeutet das?

Dadurch stellt sich die Frage, ob die Renten der beruflichen Vorsorge an die Inflation angepasst werden. Nach Gesetz können die Kassen es tun, müssen aber nicht. Eigentlich sollten Pensionskassen ihren Puffer jetzt wieder aufbauen.

Woher kommt denn der Eindruck, dass die ­Erwerbstätigen weiter zur Kasse gebeten werden?

Die Pensionskassen sind in einer misslichen Lage. Denn abgesehen von der Stimmung an den Finanzmärkten kommt hinzu, dass die Renten zu hoch sind. Seit zwanzig Jahren subventionieren die Aktiven die Rentner jährlich in Milliardenhöhe. Die Anpassung an die Inflation wäre zwar wünschenswert, entspräche aber einer zusätzlichen Belastung der Aktiven. Das gleicht einer Gratwanderung, bei der man die Solidarität zwischen aktiven Beitragszahlern und Rentnern nicht überstrapazieren möchte.

Seit zwanzig Jahren subventionieren die Aktiven die Rentner jährlich in Milliardenhöhe. (Alexas Fotos, Unsplash)

Was wäre, wenn uns nun eine zweite Finanzkrise treffen würde? Ist unser System robust genug?

Das Dreisäulenkonzept mit seinen diversifizierten Finanzierungen hat sich, trotz Ukraine- und Energiekrise, Inflation und zwei Jahren Pandemie, bewährt und resilient gezeigt. Der IWF hatte mal das ideale Altersvorsorgesystem beschrieben, und das war sehr nah am Schweizer Modell. Daher sehe ich mit Blick auf die Turbulenzen an den Märkten keinen Grund, unsere Grundkonzeption der Altersvorsorge in Frage zu stellen.

Trotzdem geht es nicht allen Kassen gleich gut.

Wir haben etwa 1500 Pensionskassen in der Schweiz, mit unterschiedlicher Zusammensetzung der Versicherten. Die Situation einer Pensionskasse der Pharmaindustrie ist daher eine ­andere als diejenige einer Kasse im Retail. Jede Kasse wird deshalb anders geführt, zum Beispiel im Bereich der Anlagestrategie oder im Umgang mit Teilzeitangestellten. Die dezentrale Organisation der zweiten Säule ermöglicht es, diesen Unterschieden Rechnung zu tragen.

Avenir Suisse fordert mehr Flexibilität in der ­zweiten Säule. Warum?

Bei der zweiten Säule ist ein Lohn erst ab etwa 25’000 Fr. versichert, egal, mit welchem Pensum gearbeitet wird. Diese Regelung stammt aus den Siebzigerjahren, als wir noch traditionelle Rollenbilder hatten und Vollzeitbeschäftigung. Damals waren die Arbeitsbiografien linear. Heute ist das Gegenteil der Fall, Unterbrechungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Zudem wird das Geld unabhängig von den Präferenzen der Versicherten angelegt. Dieser Ansatz muss überdacht werden.

Was schlägt Avenir Suisse vor?

Es muss mehr Mitspracherecht für die Versicherten geben, etwa bei der Wahl der Anlagestrategie. Heute definiert der Stiftungsrat eine Strategie für alle Angestellten, egal, ob alt oder jung, ob Chefetage oder Produktion. Auch bei der Wahl der Pensionskasse ist mehr Flexibilität wünschenswert.

Haben die Versicherten denn die nötigen ­Kenntnisse dafür?

Im Moment lohnt es sich nicht, sich über die Unterschiede der Pensionskassen zu informieren, weil ich die Kasse sowieso nicht wechseln kann. Bei einer freien Wahl der Pensionskasse wäre die Situation ganz anders. Ich würde mich bestimmt mit Kollegen im Büro oder mit Freunden beim Grillieren darüber austauschen.

Bald ist die Abstimmung über die AHV-Reform. Wie lauten Ihren Erwartungen?

Wir hatten 25 Jahre lang eine Blockade bei der AHV. Wenn die AHV-Reform jetzt durchkommt, wäre es politisch ein grosser Schritt, auch wenn die Erhöhung des Frauenrentenalters und der Mehrwertsteuer nur wenig Entlastung für das System bringt. Wir gewinnen lediglich vier Jahre Aufschub, bevor die AHV wieder reformiert werden muss.

Wieso genau?

Auch mit dieser Reform wird der AHV-Fonds, der als Puffer für die Auszahlung der Renten dient, bis 2029 dahinschmelzen, weil die Ausgaben grösser sind als die Einnahmen. So gesehen ist die Reform, über die wir am 25. September abstimmen, nur ein Zwischenschritt auf einem langen Weg.

Wo sehen sie langfristig das optimale Rentenalter für Männer und Frauen?

Zu diesem Thema sind zwei konträre Volksinitiativen eingereicht worden: Eine von der Linken will eine dreizehnte AHV-Rente einführen, eine von den Jungfreisinnigen will das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln. Es wäre denkbar, in der nächsten Reform beide Anliegen zu berücksichtigen. Mehr Rente, dafür länger arbeiten.

Avenir Suisse beobachtet unser Vorsorgesystem schon lange und weist seit Jahren auf die Probleme wie das Rentenalter und die Teilzeit­pensen hin. Baut sich manchmal Frust auf, wenn Sie ­sehen, wie lange es dauert, bis Bevölkerung und Politik aufwachen?

Ja, es braucht eine hohe Frustrationstoleranz, das ist aber Teil des Jobprofils. Wir gehen tief in die Materie, und unsere Vorschläge benötigen Zeit, um wahrgenommen und verstanden zu werden. Unsere Aufgabe ist, zu zeigen, was langfristig für eine Gesellschaft wünschenswert ist. Dafür braucht es Hartnäckigkeit und Durchhaltewillen. Persönlich finde ich allerdings Rückschritte in der gesellschaftlichen Diskussion am meisten frustrierend. Die heutigen Gegner der AHV-Reform waren vor einigen Jahren noch Verfechter einer ­Erhöhung des Frauenrentenalters, und nun argumentieren sie in die gegenteilige Richtung.

Haben Sie sich Gedanken gemacht, was passiert, wenn die AHV-Reform am 25. ­September doch noch abgelehnt wird?

Wenn man sich jetzt nicht einigt, müssen wir ­Tabula rasa machen und die Diskussion über das Rentenalter ganz neu führen. Dabei könnte die Anzahl Beitragsjahre für die Definition des Rentenalters als Grundlage dienen statt die heutige starre Altersguillotine. Wer jung mit Arbeiten beginnt, könnte früher in Pension gehen. Der ewige Student kommt später in die Arbeitswelt und müsste sie halt später verlassen.

Wie muss jeder und jede denn heute vorsorgen?

Man sollte früh genug anfangen. Das ist ein ganz wichtiges Element. Auch wenn man nicht jedes Jahr eine grosse Summe zurücklegen kann, pro­fitiert man umso mehr vom Zinseszinseffekt, je früher man beginnt.

Sie sagen es selbst, nicht alle sind dazu in der Lage.

Nicht jedes Jahr, nein. Es ist aber auch eine Frage der Prioritäten. Es sollte klar sein, wofür gespart wird und wie viel Geld dafür nötig ist. Diese Ziele zu formulieren, ist nicht einfach, aber wenn man keine Ziele hat, ist jeder Franken am Ende ent­weder falsch angelegt oder ausgegeben. Manche wollen ein Eigenheim, manche wollen weniger arbeiten, und andere wollen reisen und das Leben jetzt geniessen. In die Vorsorge zu investieren, kann übrigens auch heissen, dass man sich weiterbildet. Es ist wichtig, diese Prioritäten für die kommenden Jahre zu setzen, denn die finan­ziellen Konsequenzen sind enorm. Vor allem für Personen, die nur Teilzeit arbeiten.

Inwiefern?

Es ist ein Unterschied, ob in einer Partnerschaft eine Person 100% arbeitet oder zwei Personen je 50%. Die Einbussen durch den Koordinations­abzug in der zweiten Säule sind gross. Das haben viele nicht durchgerechnet. Für die Vorsorge und die Karriere wäre es allgemein besser, 70% zu arbeiten statt 50%.

Ein weiteres Avenir-Suisse-Thema wird ­zudem ­immer dringender, unsere Gesundheitskosten. Wie lässt sich unsere teure Betagtenpflege fair ­finanzieren?

Wir müssen uns ein System überlegen, mit dem die Alterspflege ökonomisch für die Gesellschaft tragbar wird. Bisher läuft sie über Spitex oder Pflegeheime, Letztere sind manchmal sogar finanziell günstiger als die Pflege zu Hause. Beides basiert zum Teil auf Beiträgen der Krankenkasse und ­damit schon wieder, wie bei der AHV, auf der Solidarität von Jung und Alt beziehungsweise von ­Gesund und Krank. Der Staat übernimmt zudem einen Teil der Alterspflege über die Steuern, die vor allem von den Erwerbstätigen getragen werden und weniger von den Rentnern. Auf dieses System trifft nun die Welle der Babyboomer, das heisst, immer mehr Personen kommen ins Pflegealter, und der Pflegebedarf nimmt zu.

Was schlagen Sie vor?

Im Sinne der Generationengerechtigkeit wäre es besser, ein Pflegekapital einzuführen. Jeder würde auf ein gesperrtes Konto einzahlen, auf das er im Pflegefall zugreifen könnte. Wenn das angesparte Kapital nicht mehr reicht, können Ergänzungsleistungen bezogen werden. Damit hätten wir ein Kapitaldeckungsverfahren für die Pflege, ähnlich dem Prinzip der zweiten Säule.

Kommen so auch die Kosten in den Griff?

Günstiger wird es nicht, aber die Finanzierung wäre generationengerecht, darum geht es doch. Wir müssen die Kosten von der Finanzierung ­unterscheiden, denn die Finanzierung ist immer ein politischer Entscheid.

Wie akut ist das Pflegethema?

Es ist jetzt dringend an der Zeit, die Diskussion ernsthaft zu führen. Eine Grundsatzdebatte über Pflegefinanzierung wurde noch nicht geführt. Der Bundesrat weist in einem Bericht darauf hin, dass die Pflege bis 2030 gesichert sei. Vorher möchten sich viele Politiker nicht damit beschäftigen.

Was kann Avenir Suisse hier leisten?

Bei der Pflegediskussion waren wir unter den ­Ersten, die auf die Auswirkung der Babyboomer – nicht nur auf die Altersvorsorge, sondern auf die Pflege zwanzig Jahre nach ihrer Pensionierung – hingewiesen haben. Wir haben die Fakten auf den Tisch gelegt und forcieren nun ein Thema, dem die Politik noch ausweicht. Die Coronapandemie hat das Thema aus der Diskussion verdrängt, aber die Probleme bleiben. Avenir Suisse hat den Stein ins Rollen gebracht, wir werden auch immer ­wieder zitiert, und wir halten die Debatte mit Referaten und Artikeln am Laufen.

Macht die Politik manchmal Druck auf Sie und ­versucht, Einfluss zu nehmen?

Die Politiker sind an unserem Fachwissen interessiert, auch wenn wir nicht immer gleicher Meinung sind. Wir informieren die Entscheidungs­träger, aber wir machen keine Kampagne. Unsere langfristige Ausrichtung gibt uns Glaubwürdigkeit und schützt uns vor der Tagespolitik.

Dieses Interview ist am 10. September 2022 in der «Finanz und Wirtschaft» erschienen.