Am 4. September findet in der Aula des Schweizer Paraplegikerzentrum (SPZ) in Nottwil der von Impuls Surental organisierte Event «Wie gelingt die Trendwende im Gesundheitssystem?» statt. Das Einstiegsreferat zum Thema hält Jérôme Cosandey, Forschungsleiter tragbare Sozialpolitik bei der Avenir-Suisse. Gegenüber der «Surseer Woche» hat er sich zur Lage im Schweizer Gesundheitswesen geäussert.

«Surseer Woche»: Jérôme Cosandey, während den letzten Jahren stiegen die Schweizer Gesundheitskosten für viele ins fast Unermessliche. Zudem wird die Qualität immer wieder kritisiert. Wie erklären Sie Bürgerinnen und Bürgern die aktuelle Lage im Schweizer Gesundheitssystem?

Jérôme Cosandey: Nachdem jetzt bekannt wurde, dass die Krankenkassenprämien im nächsten Jahr teils stark steigen sollen, bereitet diese Situationen vielen Menschen Sorgen. Es ist aber noch pikant: Vor der Corona-Pandemie waren beim CS-Sorgenbarometer die Gesundheitskosten zum Beispiel ein grosses Thema. Kaum war Covid da, spielten sie keine Rolle mehr.

Das hat sich jetzt aber wieder geändert….

Das ist auch ein Spiegelbild von uns allen. Als gesunde Versicherte stören uns die Prämien sehr. Wenn wir krank sind, ist es uns viel bewusster, was ein Gesundheitssystem leistet. Dann haben wir auch das Gefühl – und das ist vielleicht eine Eigenheit des Schweizer Systems – einen «Return» auf unsere «Vorauszahlungen» über die Krankenkassen-Prämien erhalten zu dürfen.

Gibt es etwas, was Sie an dieser Situation stört?

Was mich stört, und da versuchen wir mit Avenir Suisse einen Schwerpunkt zu setzen, ist: Wir wissen zwar auf den Rappen genau, was das Gesundheitssystem kostet, aber wir wissen nicht, wie viel es Wert ist. Was kriege ich für dieses Geld? Wir haben eine sehr hohe Spitaldichte und auch ein grosses Angebot. Was wir aber nicht wissen, ist zum Beispiel, ob eine Knieoperation gerechtfertigt ist oder ob eine Physiotherapie besser wäre. Da befinden wir uns in einem Blindflug.

Welchen Weg sehen Sie aus diesem Dilemma?

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Stimmt das Preis-/Leistungs-Verhältnis? Diesen Schwerpunkt müssen wir in der Schweizer Gesundheitspolitik setzen. Wir müssen weg vom Kostenfokus, hin zur Qualitätsdiskussion.

Und wie soll diese Diskussion geführt werden?

Ich glaube, der Zeitpunkt für diese Diskussion ist günstig. Zum einen besteht bei den Leistungserbringern, also bei Spitälern oder Arztpraxen, ein akuter Fachkräftemangel. Qualität kann ein Differenzierungsmerkmal beim Recruiting sein, weil Qualität im Dienst des Patienten mehr Sinn für den Pflegeberuf ergibt. Arbeitgeber, die Wert auf Qualität legen, können bei Ärzten und Pflegefachpersonen punkten.

Und zum andern?

Auf der Versicherungsseite sehe ich den Risikoausgleich. Einer Versicherung, die viele ältere Patienten als Kunden hat, entstehen schon aus Altersgründen mehr Kosten. Mit dem sogenannten Risikoausgleich werden diese Unterschiede zwischen den Versicherern ausgeglichen. Neu wird im Risikoausgleich besser unterschieden nach Männern/Frauen, älteren/jüngeren Menschen, Menschen mit chronischen Krankheiten etc. Und plötzlich ist die Jagd nach den «guten Risiken» kaum mehr lohnenswert.

Das heisst konkret?

Früher gab es beispielsweise Fitnessangebote. Da ging es nicht nur darum, dass die Leute Fitness machten. Diese Angebote fanden eher bei gesunden und jüngeren Menschen Anklang. Krankenkassen wollten so eher gesunde Menschen ansprechen und Nichtgesunde meiden. Jetzt müssen die Krankenkassen überlegen, wie sie die Versicherten günstiger und besser versorgen können. Das kann mit mehr Qualität erfolgen.

Hat die Denkfabfrik Avenir Suisse in ihrer Studie, die sie im Mai veröffentlichte, dazu auch Rückschlüsse gezogen?

Wir haben festgestellt: Es brodeln in der Schweiz überall Pilotprojekte zum Thema Qualität und wie man sie besser entschädigen kann. Das ist eine Chance, die wir nützen müssen. Es ist ein langer Weg, aber es ist der richtige. Denn am Ende des Tages führt mehr Qualität auch zu Kosteneinsparungen. Also: Qualitätswettbewerb statt «Kostenregulierungswut», wie sie im Moment im National- und Ständerat herrscht.

Hausärzte, Spezialärzte, Pharmaindustrie, Medtech-Industrie, Spitäler, Pflegeheime, Spitex oder Telemedizin: Das Gesundheitssystem ist vielfältig. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?

Die Qualitätsdiskussion stellt sich überall. Ein Kollege von Ihnen von der NZZ hat aber einmal geschrieben: «Gesundheit ist die Religion des 21. Jahrhunderts, und die Spitäler sind die heutigen Kathedralen. Das Problem mit Kathedralen: Sie sind teuer.» Das bringt die ganze Problematik der Gesundheitspolitik auf den Punkt.

Auf den «Kathedralen» liegt heute grosse Aufmerksamkeit. Zurecht?

Jein: die Spitäler verursachen einen Drittel der Kosten, leisten aber nur einen Bruchteil an die gesamte Versorgung. Man muss den ganzen Behandlungspfad betrachten, weg von einer reinen Spital- hin zu einer umfassenden Gesundheitspolitik. Aus meiner Sicht beachtet die Politik zu wenig, wo die grössten Wachstumszahlen sind. Und zwar bei Spitex und Altersheimen. Das ist weniger sexy für Politiker, weil sie da kein neues Gebäude einweihen können.

Aktuell befinden wir uns auch im Delegationssystem. Sprich: Fallen Kosten an, werden die Aufgaben delegiert, bis diese beim Bund landen. Muss man hier eingreifen?

Am Schluss zahlen weder Bund, Kanton, Gemeinde noch die Krankenkasse die Kosten, sondern immer die Bürger, via Steuern oder Krankenkassenprämie. Ich bin der Meinung: Wer zahlt, befiehlt, und wer befiehlt, soll zahlen. Luzern ist übrigens bei der Alterspflege ein guter Kanton. Hier sind die Gemeinden im Lead. Sie entscheiden, wie viele Pflegeheime sie benötigen und sie zahlen auch dafür.

Sie befürworten also eine föderalistische Lösung?

In der Schweiz, auch mit ihrer politischen Kultur, ergibt es keinen Sinn, alles beim Bund anzusiedeln. Ich bin ein überzeugter Föderalist. Der Föderalismus hat natürlich zur Folge, dass es gewisse Redundanzen gibt, mehr Kommunikationsbedarf nötig ist, aber es gibt auch Riesenvorteile, wie die Nähe zu den Bürgern sowie die Möglichkeit, Ideen in der Praxis umzusetzen und vergleichen zu können. Diejenigen, die für eine Bundeslösung plädieren, denken immer: Die beste Lösung wird sich durchsetzen. Das stimmt nicht. Es wird die Lösung mit der grössten Lobby sein.

Heisst das für Sie auch, dass kleinere Kantone eine gewisse Zusammenarbeit anstreben sollten?

Wichtig ist, und das funktioniert in der Schweiz von aussen betrachtet relativ gut, dass kleinere Kantone wie Nidwalden, Obwalden, Glarus oder Uri eine Zusammenarbeit suchen. Sie weisen nicht die Grösse der Kantone Zürich oder Bern auf, wo es mehr Möglichkeiten für eine autonome kantonale Gesundheitspolitik gibt.

Sie haben die Spitalpolitik angesprochen. In Luzern entsteht gerade ein neues Kinderspital. In Wolhusen wird das Spital neu gebaut. Das neue Spital Sursee kommt auf Schenkoner Boden zu stehen. Braucht jedes Tälchen sein «Spitälchen»?

Alle Spitaldirektoren sagen: «Es gibt zu viele Spitäler» und glauben dabei, dass sie die Patienten der anderen «abgraben» werden. So entstehen Investitionen in Milliardenhöhe und gleichzeitig ein Wettrüsten.

Was nicht im Sinne der Sache ist…

Wenn das in Wolhusen und Sursee dazu führt, dass sie kostengünstiger dieselbe Leistung erbringen können, und es gibt sogar einen «Return», ist es okay. Wenn die Investitionen aber dazu führen, dass man Kapazität erweitert in der Hoffnung, attraktiver zu werden und so von andern Spitälern Patienten zu holen, bauen wir Überkapazitäten auf. So gesehen braucht nicht jedes Tälchen sein «Spitälchen».

In Wolhusen sind aktuell grosse politische Diskussionen im Gange, weil man einen Leistungsabbau befürchtet, dass künftig zum Beispiel keine Intensivpatienten (IPS) mehr behandelt würden.

Es gibt in der Schweiz 75 von insgesamt 280 Spitälern, die Intensivbetten anbieten. Und die 20 grössten Spitäler verfügen über rund 55 Prozent aller IPS-Betten. In der Intensivmedizin hat man einen riesigen Spezialisierungsbedarf, weil hohe Fallzahlen und Erfahrung zählen. Das betrifft genau die Qualitätsthematik. Es bringt nichts, IPS zu haben, wenn die Erfahrung des Teams unzureichend ist, oder das IPS-Personal fehlt.

Wie beurteilen Sie die Situation beim Notfall?

Im Gegensatz zur zentralisierten Intensivmedizin braucht es dezentrale Notfalllösungen. Dort muss man den Patienten schnell stabilisieren können, um ihn dann entsprechend zuzuweisen. In dem Zusammenhang glaube ich auch, muss man der Bevölkerung den Unterschied zwischen Intensiv- und Notfallmedizin besser erklären.

2031 soll Sursee fertig sein. Welche Bedürfnisse sind nach heutigen Erkenntnissen dann abzudecken?

Ich kenne die Verhältnisse vor Ort zu wenig, kann aber sagen: Die «Ambulantisierung» wird zunehmen und immer wichtiger werden. Ich bin nicht sicher, ob alle Spitaldirektoren und alle Spitalpolitiker realisiert haben, dass alles viel agiler wird. Die Konkurrenz wird eine ganz andere sein, und zwar nicht nur unter Spitälern.

Woher wird sie kommen?

In der Stadt Luzern beispielsweise wird es mehr Arztpraxen geben, die sich auf die Operation des grauen Stars oder auf die Behandlung von Krampfadern spezialisieren. In diese Richtung muss man bereits denken. In Biel sind solche Überlegungen im Gang, und der Zeitplan ist etwa derselbe wie in Sursee.

Können Sie diese Überlegungen konkretisieren?

In Biel entsteht beim Bahnhof ein Zentrum für ambulante Leistungen. Parallel dazu wird etwas ausserhalb von Biel, in Brügg, ein neues Spital für stationäre Patienten gebaut. Sollte man in Schenkon dasselbe Spital wie in Sursee, nur neuer und schöner, hinstellen, dann läge man definitiv falsch.

280 Spitäler haben wir heute in der Schweiz. Wie viele werden es in fünf, in zehn Jahren noch sein?

Der Fachkräftemangel wird zu Schliessungen von Spitälern oder zumindest von einzelnen Abteilungen führen. Das ist der Treiber für die Spitalkonzentration. Der Mangel an Fachkräften dürfte eine Lösung bringen, welche die Politik bisher nicht durchsetzen konnte. Die Standortfrage der Spitäler darf nicht zur Standortpolitik werden. Man muss die Ressourcen poolen.

Das bedeutet?

Wir müssen weg vom politischen Wunschdenken, zurück zur Realität. Immer wieder verwechseln Leute Proximität mit Qualität. Spannend ist deshalb auch, dass der Gesundheitsanlass im SPZ in Nottwil stattfindet.

Das Schweizer Paraplegikerzentrum (SPZ), eine Spezialklinik für Querschnittgelähmte in Nottwil im Kanton Luzern. (Wikimedia Commons)

Weshalb?

Weil dort die Spezialisierung extrem vorangetrieben wird und es in der ganzen Schweiz nur sehr wenige ähnliche Zentren gibt. Ergo hat Nottwil ein riesiges Einzugsgebiet.

Dass das Gesundheitswesen Reformen braucht, ist unbestritten. FDP-Ständerat Damian Müller sagte kürzlich in dieser Zeitung, dass das Tarifwerk Tardoc seit vier Jahren auf dem Tisch von Gesundheitsminister Alain Berset liege. Das veraltete Tarmed bilde längst nicht mehr die aktuelle Situation im ambulanten Bereich ab. Sehen Sie das auch so?

Strategisch ergibt es absolut keinen Sinn, dass wir diese Entwicklung bremsen. Wir müssen auf die neue Tarifstruktur, also auf Tardoc, einschwenken. Gesetzlich wäre alles klar, und Tardoc müsste eigentlich schon längstens bewilligt sein. Ich bin der Ansicht: Wer diesen Tarif praktizieren will, soll das machen können. Und meine Hoffnung ist zugleich, dass wir hier endlich zum Ziel kommen.

Wie sehen Sie die Digitalisierung im Gesundheitswesen? Ist die Schweiz auf dem richtigen Weg?

Ich war kürzlich wegen eines Augeninfekts in einer Klinik in Dänemark. Dort habe ich erlebt, dass dieses Land bei den Digitalisierungsprozessen viel weiter ist als die Schweiz. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir viel Wert auf den Föderalismus legen. Ich finde ihn zwar auch eine gute Sache. Dennoch hemmt er uns hier offenbar, und wir haben noch grossen Nachholbedarf.

Kann die künstliche Intelligenz (KI) bei der Trendwende im Gesundheitswesen eine Rolle spielen?

KI kann helfen, wo sie für Patienten kaum sichtbar ist, zum Beispiel bei der Diagnostik, bei der Prozessunterstützung, auch im Backoffice gibt es sicherlich Potenzial. Dass uns dereinst Roboter pflegen, halte ich nicht für wahrscheinlich.

Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in der Studie «Mehr Mehrwert im Gesundheitswesen».