Reaktionen auf Reformvorschläge der OECD

Die OECD unterbreitet ihren Mitgliedsländern regelmässig Reformvorschläge mit dem Ziel, deren Wachstumspotenzial zu steigern. Nach einer gewissen Zeit berichtet sie, ob und in welchem Ausmass ihre Empfehlungen umgesetzt, also nicht nur diskutiert, werden. Das Ausmass der Reformfortschritte wird zu einem 30 OECD-Staaten einschliessenden Ranking mit der Spanne  minus 1 bis plus 1 verdichtet (reform responsiveness rate indicator). Negative Werte bedeuten eine im Vergleich zur Vorperiode sinkende Reformbereitschaft.

Unter Druck reformiert es sich leichter

Die letzte Bestandsaufnahme stammt aus dem vergangenen Jahr (Economic Policy Reforms 2012: Going for Growth). Sie beleuchtet die Entwicklung  zwischen den Jahren unmittelbar vor dem Beginn der Finanzkrise (2005-07) und den Jahren 2010-11. Die Grafik fasst das Ergebnis zusammen. Sie zeigt zweierlei.

Erstens war die Bereitschaft, Reformen durchzuführen («Responsiveness to Going for Growth recommendations»), in einigen Krisenländern der EWU wie Portugal, Griechenland und Spanien besonders gross. Das ist nicht erstaunlich. Wem das Wasser bis zum Hals steht, der muss strampeln. Allerdings wurden die Reformen oft nur unter Druck, mit Zähneknirschen und gegen den Willen eines Grossteils der Bevölkerungen angepackt. Der Begriff «Bereitschaft» muss deshalb etwas relativiert werden.

Dennoch verleiht die Analyse der OECD jenen Stimmen Gewicht, die von einer Aufhellung des Horizonts in der Währungsunion ausgehen. Auch die Erstarkung des Euro lässt sich damit rechtfertigen. Noch ist es aber zu früh, «mission accomplished» auszurufen. In einigen Ländern der EWU starteten die Reformbestrebungen von einer sehr geringen Wettbewerbsfähigkeit aus. Es lauert die Gefahr, dass die ersten Erfolge zum Erlahmen des Reformeifers führen. Das gilt umso mehr, als die unkonventionelle Geldpolitik der Zentralbanken mit ihrer Liquiditätsflut und den extrem tiefen Zinsen Marktsignale verzerrt, die Perspektiven in einem zu günstigen Licht erscheinen lässt und der Implementierung struktureller Reformen im Weg stehen kann.

Zweitens zeigt sich, dass Länder wie Deutschland und die Schweiz, die in den letzten Jahren wirtschaftlich erfolgreich waren, reformmüde wurden. Es trifft zwar zu, dass Deutschland im letzten Jahrzehnt mit der Agenda 2010 bedeutende Reformleistungen erbrachte und auch die Schweiz aus der Stagnation der neunziger Jahre Konsequenzen zog.

Dennoch gilt für beide Volkswirtschaften, dass die Reformagenda noch lange nicht abgearbeitet ist. Der Wettbewerbsdruck, der von den aufstrebenden Volkswirtschaften ausgeht, und das rasche Tempo des weltweiten Strukturwandels lassen ein Erlahmen des reformerischen Elans nicht zu. «Nicht einfach gut, sondern besser sein», heisst die Losung.

Im Grunde sinnvolle Vorschläge

Mit den Angriffen der OECD auf das schweizerische Steuersystem und ihren Postulaten zu dessen Neugestaltung im Ohr könnte man eine zynische Haltung einnehmen und den Standpunkt vertreten, die Nichtbeachtung von OECD-Reformvorschlägen wäre vielleicht eine schlaue Strategie. Man kann auch der OECD eine zu grosse Nähe zu den Länderregierungen vorwerfen und den Sinn solcher Rankings grundsätzlich in Abrede stellen. Das wäre kurzsichtig.

Was die OECD nämlich der Schweiz nahelegt, ist über weite Strecken sinnvoll. Sie fordert  u.a. die Beseitigung von Wettbewerbshindernissen in den Netzwerksektoren, den Abbau von Subventionen in der Landwirtschaft, die Steigerung der Effizienz im Gesundheitswesen und die Arbeitsmarktpartizipation der Frauen, aber auch die Einführung von Studiendarlehen und die Erhöhung der Studiengebühren. Das sind keine neuen Vorschläge. Ihre Realisierung kommt aber im politischen Alltag unter die Räder. Deshalb muss steter Tropfen den Stein höhlen.  In diesem Sinn können die Analysen der OECD ein Weckruf sein.