Simon Brunner: Seit Jahren zeigt das Sorgenbarometer der Credit Suisse, dass die grösste Sorge der Schweizerinnen und Schweizer die Arbeitslosigkeit ist. Warum eigentlich?

Peter Grünenfelder: Schweizerinnen und Schweizer haben ein ausgeprägtes Arbeitsethos. Dies schlägt sich in der durchschnittlichen Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr nieder. So arbeitet man in der Schweiz 220 Stunden mehr als in Deutschland und 110 Stunden mehr als in Frankreich. Das Arbeitsethos zeigte sich aber auch im Jahr 2012 beim klaren Volks-Nein zur Initiative für sechs Wochen Ferien. Die allermeisten sind daher bestrebt, Arbeitslosigkeit aus finanziellen und sozialen Gründen zu vermeiden. Da aber ein zunehmend grösserer Teil der Arbeitslosigkeit strukturelle Gründe hat und tendenziell unabhängig von der Konjunktur ist, ist sie in der Gesellschaft mittlerweile ein Dauerthema.

Gefragt, welches politische Ziel höchste Priorität hat, ist die meistgewählte Antwort: «Wirtschaftliches Wachstum», noch vor «AHV» und «Familie/Beruf». Wie erklären Sie sich dieses Resultat?

Wirtschaftliches Wachstum trägt entschieden zur individuellen Wohlstandssicherung und -mehrung bei. Ebenso hilft es bei der Umsetzung anderer politischer Ziele, etwa bei der Finanzierung der AHV oder der Verhinderung von (Jugend-)Arbeitslosigkeit. Zurzeit ist die weltweite Wirtschaftslage unsicher, sei es aufgrund der unklaren Ausrichtung der künftigen Geldpolitik in den USA oder der Umsetzung des Brexit in Europa. Auch in unserem Land ist beispielsweise mit Blick auf die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative noch nicht definitiv absehbar, welche politischen Rahmenbedingungen der Wirtschaft schliesslich gesetzt werden. Daher ergibt es aus meiner Sicht Sinn, dem wirtschaftlichen Wachstum höchste Priorität einzuräumen. Zu arbeiten ist vor allem an der relativ schwachen Produktivität der Binnenwirtschaft.

In die gleiche Richtung geht ein anderes Resultat: 70% der Befragten finden, die Wirtschaft versage selten oder nie – dieser Wert war noch nie so hoch. Warum ist das Vertrauen in die Wirtschaft so ausgeprägt?

Das Vertrauen im Allgemeinen, nicht nur in die Wirtschaft, sondern auch in die Politik ist hierzulande hoch. Dabei handelt es sich um ein Vertrauen in die Institutionen von Markt und Politik insgesamt. Das ist auch damit zu erklären, dass unser Land die Finanzkrise relativ rasch bewältigt hat. Dazu kommt die verhalten positive Wirtschaftslage in der Schweiz.

68% – so viele wie noch nie – beurteilen ihre eigene wirtschaftliche Lage als sehr gut oder gut. Wie ist das möglich in Zeiten, in denen die wirtschaftlichen Hauptindikatoren eigentlich nicht optimal sind?

Die Wachstumsprognosen sowohl der OECD als auch des Seco für 2017 liegen mit 1,7% bzw. 1,8% genau im Durchschnitt der letzten 20 Jahre. Dazu kommt, dass die Reallöhne aufgrund der tiefen, bzw. negativen Teuerung in den letzten Jahren gewachsen sind. Schweizer Haushalte können sich also mehr leisten oder haben am Ende des Monats mehr übrig.

Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP ist wenig bekannt in der Schweiz und die Meinungen dazu geteilt. Aber interessanterweise würden 41 Prozent der im Sorgenbarometer Befragten ein eigenes Abkommen mit den USA bevorzugen. Ist das realistisch?

Die Antworten zur Zustimmung und zum Vorgehen betreffend TTIP sind wohl etwas zu relativieren mit Blick auf die 61%, die vor der Befragung noch gar nichts von TTIP gelesen, gesehen und gehört hatten. Ökonomen gehen heute davon aus, dass bei der Realisierung von TTIP in Europa 400’000 neue Arbeitsplätze entstehen und in den USA rund eine Million. Es ist daran zu erinnern, dass 2006 die Schweizer Agrarlobby die Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen mit den USA zu Fall brachte, noch bevor sie richtig starten konnten. Damit wurde eine handelspolitisch einmalige Chance leichtfertig verspielt. Da es sich bei den TTIP-Verhandlungspartnern USA und EU um die beiden wichtigsten Handelspartner der Schweiz handelt, sind im Falle eines erfolgreichen Verhandlungsabschlusses Konkurrenznachteile für Schweizer Unternehmen zu befürchten. Es ist daher unbedingt anzustreben, dass unser Land an TTIP andockt. Ist dies nicht möglich, ist erneut nach Kräften zu versuchen, ein Freihandelsabkommen mit den USA abzuschliessen.

Der Brexit wird von den Befragten im Sorgenbarometer als wirtschaftlicher Vorteil für die Schweiz gesehen. Teilen Sie diese Meinung?

Vorerst schwächt der Brexit die wirtschaftliche Stellung Europas. Bis auf Weiteres wird sich die EU mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs und sich selbst beschäftigen. Die Schweizer Anliegen werden somit auf der Prioritätenliste nicht zuoberst stehen. Die Phase der Unsicherheit, die seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative herrscht, wird daher andauern. Die aus dem Brexit folgende wirtschaftliche und politische Instabilität wirkt sich auch negativ auf das Investitionsklima aus, was für das Wirtschaftswachstum hinderlich ist. Für die Schweiz als kleine, offene Volkswirtschaft ist diese Entwicklung nicht von Vorteil.

(Grafik Credit Suisse)

(Grafik Credit Suisse)

Gefragt, wie die Schweizer Wirtschaft im Vergleich zur ausländischen dasteht, haben noch nie so viele mit «eher gut» oder gar «sehr gut» geantwortet. Sehen Sie eine Gefahr, dass den Schweizerinnen und Schweizern nicht bewusst ist, wie stark unsere Wirtschaft von den umliegenden Ländern abhängt?

Der individuelle Wohlstand von Frau und Herrn Schweizer basiert wesentlich auf der aussenwirtschaftlichen Verflechtung unseres Landes – 70 Rappen jedes Frankens verdienen wir dank dieser Verflechtung. Das kann man nicht genug in Erinnerung rufen. Beim Handelsvolumen ist Baden-Württemberg so wichtig für uns wie China oder das Tirol so sehr wie Kanada. Wir müssen uns nach Kräften dagegen wehren, dass neue Grenzen – politische wie mentale – hochgezogen werden, sie würden unsere wirtschaftliche Wohlfahrt leichtfertig aufs Spiel setzen.

Der Finanzplatz hat seit 2010 in der Tendenz an Zuspruch gewonnen, wenn man fragt, was die Stärken der Schweiz seien. Auch sind 77% sehr oder ziemlich stolz auf den Finanzplatz. Ist der Ruf der Banken und Versicherungen nach der Finanzkrise wiederhergestellt?

Die Schweizer Finanzwirtschaft ist eine Vorzeigebranche und lebt die Internationalität, die es zur erfolgreichen Fortentwicklung des Wirtschaftsstandortes Schweiz braucht. Dazu wurden schwierige und komplexe Fragestellungen wie etwa der Steuerstreit mit den USA professionell abgewickelt, was das Vertrauen in die Branche wieder steigerte.

Zur Stärkung des Finanzplatzes müsste zuerst der Kapitalmarkt gestärkt werden, finden 82% der Befragten (meistgenannte Antwort). Teilen Sie diese Ansicht?

Für Unternehmen, den Standort Schweiz und damit unseren Wohlstand, ist die Verfügbarkeit von langfristig gesicherten Finanzierungsquellen wesentlich. Insofern ist ein starker Kapitalmarkt nicht nur Voraussetzung für einen starken Finanzplatz, sondern essenziell für die gesamte Schweizer Wirtschaft. Viele Themen in Verbindung mit dem Kapitalmarkt stehen aktuell auf der politischen Agenda. Zentral ist ein attraktives steuerliches und regulatorisches Umfeld. Im Rahmen der Unternehmenssteuerreform III hat man es aber leider verpasst, die Stempelsteuer abzuschaffen. Dem Finanzplatz und der weiteren Stärkung des Kapitalmarkts wäre indes ein Dienst erwiesen, wenn der Zugang zu ausländischen Finanzmärkten verbessert würde. Hier besteht noch Handlungsbedarf.

Für fast so wichtig halten die Befragten die Stärkung von Finanztechnologien, oder FinTech. Muss die Schweiz Startups und Innovation generell fördern?

Die politische Schweiz sollte sich auf die Schaffung der bestmöglichen Rahmenbedingungen für Innovation und Start-ups konzentrieren, die Finanzierung aber der Wirtschaft überlassen. Von solchen Rahmenbedingungen sind wir jedoch weit entfernt. Es hilft wenig, die Wichtigkeit der Start-ups als Transmissionsriemen für die technologie- und wissensbasierte Erneuerung der Wirtschaft zu betonen, wenn gleichzeitig das Vermögen von Start-up-Gründern steuerlich sanktioniert wird oder wenn innovationsstarke Unternehmen Regulierungen als grössten Hindernisfaktor beklagen. Wir müssen einen Rechtsrahmen schaffen, der auf das Ermöglichen statt auf das Verhindern setzt. Insbesondere besteht Handlungsbedarf bei den Rahmenbedingungen zur Verfügbarkeit von hochqualifiziertem Personal. In diesem Zusammenhang ist die Personenfreizügigkeit, aber auch die einfache Anstellung von Spitzenkräften aus Drittstaaten zentral. Wird der Arbeitsmarkt noch stärker reguliert, wird die Standortattraktivität für Start-ups weiter sinken.

Wo sehen Sie die grösste Bedrohung für das Erfolgsmodell Schweiz?

Sorgen bereiten mir die Tendenzen zur Abschottung und zur Wachstumsmüdigkeit. Die Schweiz ist auf gute wirtschaftliche Beziehungen zum Ausland angewiesen. Dies gilt nicht nur betreffend den Austausch von Gütern, sondern auch jenen von Arbeitskräften. Wenn wir unsere guten Beziehungen zur EU, unserem mit Abstand wichtigsten Wirtschaftspartner, riskieren, so tangiert das unseren Wohlstand direkt. Seit Inkrafttreten der Bilateralen ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz um jährlich 0,5 bis 1% gestiegen. Das ergibt ein seit 2002 kumuliertes Zusatzeinkommen von 50’000 Franken pro Person. Jede Schweizerin und jeder Schweizer hat also dank den Bilateralen fast vier Fünftel eines typischen Jahresgehalts dazuverdient. Wenn mit der Personenfreizügigkeit alle anderen bilateralen Verträge wegfallen, verlieren Schweizer Firmen auf einen Schlag auch den Zugang zu einem Markt von mehr als 500 Millionen Konsumenten und potenziellen Arbeitnehmern. Hinsichtlich Wachstumsmüdigkeit: Ob der ganzen Kritik am Wirtschaftswachstum geht häufig vergessen, wie elementar dieses für das ganze Funktionieren unseres Wirtschaftssystems und der Gesellschaft ist. Die Finanzierung unserer Sozialsysteme braucht Wachstum. Der ganze technische Fortschritt generiert letztlich auch wieder Wachstum – und auf diesen will kaum jemand verzichten, egal, wie er sonst zum Thema Wirtschaftswachstum steht. Wir müssen also wieder vermehrt die ökonomischen Wahrheiten ins öffentliche Bewusstsein rücken.

Wie bleibt das Land erfolgreich?

Avenir Suisse richtet die Arbeiten anhand von fünf Prosperitätstreibern aus, die wir als wesentlich für den heutigen und zukünftigen Erfolg unseres Landes erachten. Dieser bedingt einerseits eine wirtschaftlich offene Schweiz, die unseren Unternehmen den Zugang zu den Europa- und Weltmärkten ermöglicht. Er betrifft anderseits leistungsfähige Infrastrukturen und Märkte mit weniger Regulierung, einer Energie- und Verkehrspolitik, die sich verstärkt am Markt ausrichtet, aber auch Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen, die nicht zwingend in staatlicher Hand sein müssen wie etwa die Energiewerke oder die Kantonalbanken. Dies auch zur Minimierung der Risiken für uns alle als Steuerzahler. Zwingend anzugehen ist drittens die umfassende Reform des Sozialstaates, um die demografische Entwicklung auf Dauer finanzierbar zu machen. Hier braucht es politischen Mut. Viertens setzen wir uns für Smart Government ein mit weniger Umverteilung, dem föderalistischen Wettbewerb, dem effektiveren Einsatz der Steuergelder als bisher und einer verbesserten Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Und fünftens engagieren wir uns für eine echte Chancengesellschaft mit wirksamer Integration aller Gesellschaftsschichten in den Arbeitsmarkt, der Förderung der Gleichstellung durch gute Institutionen statt durch Zwang, und einem Bildungssystem insbesondere auch auf Hochschulstufe, das mehr auf Exzellenz und weniger auf föderalistische Regionalpolitik fokussiert.

Dieses Interview wurde am 31. November 2016 im «Credit-Suisse-Sorgenbarometer» publiziert. Credit Suisse Bulletin (2016).