Schweizer Politmühlen mahlen bekanntlich langsam. Das zeigte sich Ende vergangener Woche in aller Deutlichkeit, als der Bundesrat nach fünfjährigen Verhandlungen seinen Nicht-Entscheid zum Institutionellen Rahmenabkommen mit der Europäischen Union kommunizierte. Auch in der Vergangenheit kam die Entscheidungsfindung oft sehr langsam, doch immerhin stetig voran. Dieser oft unspektakuläre Meinungsbildungsprozess trägt das Seine dazu bei, dass unser Land bis heute weltweit als Hort der Stabilität gilt. Dennoch ist fraglich, ob ein solches Vorgehen diesmal aufgeht.

Transparentes Verhandlungsergebnis

Immerhin wissen wir seit vergangener Woche, dass das Verhandlungsdossier neu das Kürzel «InstA» trägt. Das Verhandlungsergebnis ist transparent, ein für mehrere Monate anberaumtes Konsultationsverfahrens steht an. Transparent ist ebenso die Uneinigkeit des Bundesrates in der Frage der zukünftigen Ausgestaltung unseres wirtschaftlichen und politischen Verhältnisses zur EU, dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner. Somit wiedergibt das siebenköpfige Kollegium ein ziemlich präzises Abbild der divergierenden Meinungsbilder in dem von ihm regierten Land.

Aber statt in bewährter Landestradition das Gemeinsame im konstruktiven Diskurs zu suchen und auf eine von einem breiten Konsens getragene Lösung hinzuarbeiten, gehen die politischen Haltungen zur zukünftigen Beziehung mit der EU immer mehr auseinander – in Bundesbern genauso wie in der Quartierbeiz. Das bisherige Nicht-Entscheiden zum InstA ist letztlich Ausdruck des Spalts in der Schweizer Gesellschaft. Zwar weiss man um den geschaffenen wirtschaftlichen Mehrwert dank des bisherigen bilateralen Wegs. Zugleich tritt man an Ort und verkennt, dass eine weitere Wegstrecke im bilateralen Marathonlauf zurückzulegen ist, der am 1. Juni 2002 gestartet wurde. Denn die Fixierung auf den Status quo bzw. das Treten an Ort ist auf Dauer nicht zielführend. Die EU drängt auf ein dynamisches Beziehungsgeflecht. Übernimmt die Schweiz diese Betrachtung nicht, ist nicht auszuschliessen, dass die EU den Marktzugang für unsere Unternehmen sukzessive erschwert.

Die Schweiz am Scheideweg. (ETH Bibliothek Zürich, Bildarchiv)

Dass wir Schweizer in unserer langwierigen Entscheidungsfindung über den richtigen Weg seitens der EU zeitlich unter Druck gesetzt werden können, stört unser gewachsenes Souveränitätsempfinden gewaltig. Neben der nochmaligen sechsmonatigen Verlängerung der Börsenäquivalenz (MIFIR 23) stehen weitere Äquivalenzentscheide im Finanzbereich an, etwa die direkte grenzüberschreitende Bedienung von professionellen Kunden aus einem Drittstaat in die EU (MIFIR 46) oder die sogenannte AIFMD. Dies betrifft die Zulassung für Schweizer Fonds im alternativen Bereich für die ganze EU, was Geschäftsmöglichkeiten aus der Schweiz heraus eröffnen würde, die bisher nur von EU-Standorten aus möglich waren. Tangiert sind ebenso Abkommen über die öffentliche Gesundheit wie jenes zur Bekämpfung von Epidemien, Verträge zur Lebensmittelsicherheit oder der Anschluss an die Roaming-Regelung in der EU. Diese Gebühren hat die EU mittlerweile abgeschafft.

Gefahr für die Schweizer Exportwirtschaft

Wirtschaftlich von ausserordentlicher Bedeutung sind die Abkommen über die technischen Handelshemmnisse (MRA), die gegenseitige Anerkennung der Prüf- und Konformitätsbewertungen. Die MRA-Produktbereiche betreffen fast 70 Prozent der Schweizer Industrieexporte in die EU-Mitgliedsländer. Stockt die Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU, ist eine Nicht-Aktualisierung des MRA nicht auszuschliessen. Das würde klar zulasten der Schweizer Exportwirtschaft gehen. In unserer zweigeteilten Ökonomie mit den höchst wettbewerbsfähigen Exportunternehmen und dem teilweise trägen Binnenmarkt würde eine Nicht-Aktualisierung vorab jene Bereiche treffen, die massgeblich zur Wertschöpfung beitragen. Alleine die Pharmaindustrie mit ihrem 25-Prozent-Anteil an der gesamten industriellen Wertschöpfung befürchtet Mehrkosten von bis zu 300 Millionen Franken jährlich, sollten technische Handelshemmnisse eingeführt werden. Und könnte die Schweiz am neuen, 2021 startenden Forschungsabkommen mit der EU nicht mehr teilnehmen, würde der international angesehene Forschungsstandort Schweiz in Mitleidenschaft gezogen. Nur schon die Teilnahme am laufenden Programm schuf rund 190 Startups und universitäre Spinoffs mit gegen 3000 neuen Stellen.

Doch anders als öffentlich kolportiert, steckt die Schweiz auf ihrem bilateralen Weg heute keineswegs in einer Sackgasse fest, vielmehr steht unser Land vor einer entscheidenden Weggabelung. Der eine Weg ist der des konsequenten Beschreitens des Alleingangs und der Eigenständigkeit. Damit nimmt man zwar bewusst die Preisgabe des bilateralen Vertragswerks in Kauf, doch würde sie bestenfalls einen Zugewinn an nationaler Souveränität bedeuten. Autonomiefragen würden gegenüber ökonomischen Fragen wie jener der weiteren Marktintegration klar priorisiert. Auf dem Arbeitsmarkt würden nach Aufgabe der Personenfreizügigkeit wieder Kontingente eingeführt. Der liberale Arbeitsmarkt, der wegen der um sich greifenden Vergewerkschaftung mit Mindestlohnstandards bereits heute unter Druck steht, würde weiter empfindlich eingeschränkt. Eine Gewichtsverschiebung von der Exportwirtschaft hin zur Binnenwirtschaft wäre zu erwarten. Ein Ausweg aus dieser wirtschaftlich wenig attraktiven Situation wären weitgehende Liberalisierungen im Inland, konsequente Deregulierungen sowie die unilaterale Öffnung. Die Schweiz als globale liberale Oase? Man müsste alles daran setzen, dass der Souverän die nötigen umfassenden Reformen dann auch mitträgt.

Frage nach dem Preisetikett

Gewichtet man dagegen nationale Souveränitätsfragen in den Beziehungen zur EU weniger hoch als das wirtschaftliche Marktzugangspotenzial, sollte der bilaterale Weg auf einer dynamischen Basis beschritten werden. Neue Geschäftsmöglichkeiten würden sich etwa mit dem Abschluss eines Stromabkommens und dem Finanzdienstleistungsabkommen eröffnen; dann müsste man sich allerdings an den Binnenmarktregeln der EU orientieren. Das im InstA-Verhandlungsergebnis vorgesehene Schiedsgericht würde der Schweiz erstmals ermöglichen, die ihr zustehenden Rechte auf juristischem Weg einzufordern. Gleichwohl sollten aktuelle Baumängel im EU-Haus (Stichwort: Euro) nicht negiert werden, darum müsste aus Gründen der Potenzialoptimierung der aussenwirtschaftliche Öffnungskurs über die EU hinausgehen. Der Abschluss weiterer Freihandelsabkommen drängt sich sowieso auf. Im Vordergrund steht hier ein Vertrag mit den USA, nach der EU der zweitwichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz.

Angesichts der Weggabelung, vor der unser Land heute steht, ist letztlich ganz profan die Frage des Preisetiketts zu stellen: Welchen Preis für welchen Inhalt wollen wir Schweizer zahlen? Wird der Wert der formellen Souveränität und Eigenständigkeit in ihrer absoluten Form höher gewichtet als das Anliegen des ungehinderten Binnenmarktzugangs mit seinen ökonomischen Vorteilen? Unserer direkt-demokratischen Tradition folgend, sollten diese Fragestellungen nicht alleine im geschlossenen Kreise einer elitären Runde diskutiert werden, sondern im «Rössli» und im «Sternen» mit der Bevölkerung. Klar ist heute nur eines: Das Nicht-Entscheiden über den eigenen Weg in die Zukunft ist keine Alternative. Für Liberale ist bedeutend, dass der Schweiz-interne Reformstau überwunden wird und der Marktzugang via dem bilateralen Weg gesichert werden kann, auch weil der mit der aussenwirtschaftlichen Offenheit geschaffene Wohlstand entscheidend zur gesellschaftlichen Kohäsion in der Schweiz beiträgt.

Dieser Beitrag ist in der «Schweiz am Wochenende» vom 15.12.2018 erschienen.