Rangelei um die Position des Chef-Totengräbers: Wer kann noch mehr Erde auf das Grab des Institutionellen Rahmenabkommens schütten, auf dass die Leiche nimmermehr wiederkehre? In den Rollen der in der Sache vereinten Kontrahenten: Rechts eine nationalkonservative Partei, in der linken Ecke die Gewerkschaften samt ihrer angehängten linkskonservativen Partei. Kürzlich hat die linke Seite zum Kinnhaken ausgeholt: Nach den Forderungen zum Lohnschutz wird nun der Begriff des Service public zum gefühlt millionsten Mal auf den politischen Schild gehoben.

Neuerdings als Argument gegen den Start offizieller Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Beim Europathema wird seit 1992 mit den Emotionen gespielt. Worum geht es diesmal? Die SBB, unser Inbegriff eidgenössischer Verlässlichkeit und Pünktlichkeit (beides war aus Kundensicht schon besser …), wird gemäss linker Seite in ihrer Existenz durch die neoliberalen Marktjünger aus Brüssel bedroht.

Das vierte Eisenbahn-Paket ist ein grosser Schritt auf dem Weg zur Realisierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraumes. (Kajetan Sumila, Unsplash)

Europäischer Eisenbahnraum

Was ist passiert? Die Weiterentwicklung und Vertiefung des Binnenmarktes – so auch das Eisenbahnrecht – erfolgt in der EU üblicherweise in Paketen. Das vierte Eisenbahn-Paket ist ein grosser Schritt auf dem Weg zur Realisierung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraumes. Seit 2020 können alle Schienenverkehrsunternehmen der EU ihre Dienste europaweit anbieten. Dies unter der Voraussetzung, das europäische Beihilferecht werde nicht verletzt. Damit soll vermieden werden, dass staatliche Stützungsmassnahmen zugunsten eines Unternehmens zu ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteilen führen. Es gilt das «Prinzip der gleich langen Spiesse»: Alle am Binnenmarkt teilnehmenden Unternehmen sollen über die gleichen Bedingungen verfügen, so dass der Wettbewerb nicht verzerrt wird. Ein grundsätzlich sinnvolles Konzept, in der Regel profitieren Unternehmen und Konsumenten von einer grösseren Auswahl und tieferen Preisen.

Die konkreten Auswirkungen des Beihilferechts spürt zurzeit Frankreich: Um dem Druck Brüssels zu begegnen, plant Frankreich die bisher mit Milliardenspritzen am Leben erhaltene Güterbahn Fret SNCF aufzuteilen und zu privatisieren. Klar, «Privatisieren» ist eines der Top-Ten-Trigger-Wörter für gewerkschaftliche Funktionäre: Narrative wie das «Verscherbeln des Tafelsilbers» oder das allzeit beliebte «Verluste sozialisieren, Gewinne privatisieren» sind dann nicht weit. Doch was kümmert Schweizer Gewerkschaften die französische Staatsbahn? Die internationale Solidarität? Nein, es ist viel simpler: Aus dem französischen Beispiel soll innenpolitisches Kapital geschlagen werden.

Gewerkschaften wittern Chancen

Denn die Gewerkschaften sehen prophetisch nicht nur rot, sondern schwarz: Die Schweiz müsse, so ihre Behauptung, im Falle eines Vertrags mit der EU auch die Vorgaben zu staatlichen Subventionen übernehmen, dies gefährde u.a. den Service public beim Schienenverkehr. Die vergünstigten Kredite des Bundes an das Bahnunternehmen sowie die Finanzierung des regionalen Verkehrs seien im Fokus Brüssels. Es wird gar von deutschen Verhältnissen auf unseren Schienen gewarnt. Ob die prophetischen Aussagen der Realität entsprechen, ist stark zu bezweifeln, denn nicht nur die Schweiz finanziert den öffentlichen Verkehr mit Steuergeldern. Angesprochen auf die EU-Beihilferegeln verneinte die zuständige Schweizer Staatssekretärin gar Auswirkungen auf den Service public der SBB.

Die Motivation hinter der aufgezogenen gewerkschaftlichen Drohkulisse ist, vom Bundesrat vorauseilend Kompensationsmassnahmen zu erhalten. Dies würde der Gewerkschaftsführung, die sich in der Europafrage vor einigen Jahren verrannt hat, den Weg zurück in die Allianz derjenigen ebnen, die hinter einem pragmatischen Ansatz mit der EU stehen. Selbstredend soll die Rückkehr mit der Bedienung alter linker Anliegen versüsst werden, dazu gehört beispielsweise die Ausdehnung der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Dies sichert Arbeitsplätze und Einkommen der Gewerkschaften selbst, denn für die Kontrolle der GAV erhalten sie Geld, das zuvor als Lohnprozente bei den betroffenen Branchen abgezwackt wurde. Das Störende an diesem System: Einem GAV unterstellte Betriebe und Arbeitnehmende werden zwangsweise zur Kasse geben, auch wenn sie keinem Verband oder keiner Gewerkschaft angehören. Mittlerweile unterliegen fast 60 Prozent der Schweizer Arbeitsverträge einer Mindestlohngrenze. Innerhalb von 15 Jahren hat sich die Anzahl Arbeitnehmender, die einem GAV unterstellt sind, mehr als verdreifacht – dies trotz sinkender Mitgliederzahlen der Gewerkschaften. Die «Vergewerkschaftung» des Schweizer Arbeitsmarktes soll also konsequent weitergetrieben werden.

Profiteure des sich vertiefenden Binnenmarktes

Im Verhältnis Schweiz-EU regelt bisher das bilaterale Landverkehrsabkommen den internationalen Schienenverkehr. Trotz der Beihilferegeln findet sich darin keine Silbe zu einem Abbau der öffentlichen Finanzierung, wie sie für Unternehmen aus dem EU-Raum gilt. Dies ist interessant, denn für viele unserer staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen ist der Schweizer Markt schon lange zu eng geworden, sie investierten kräftig im Ausland, vorzugsweise in der EU. So ist die SBB Cargo International seit 2010 im Ausland unterwegs und bietet über Tochterfirmen in Deutschland, Italien und den Niederlanden ihre Leistungen im Schienengüterverkehr an. In Duisburg werden gar Lokführer ausgebildet. Ähnlich verhält es sich bei der Post, der Swisscom oder bei den grösseren Stromerzeugern: Ihre Tochterunternehmen unterstehen den EU-Regulierungen und profitieren vom sich vertiefenden Binnenmarkt.

Auf dem Schweizer Heimmarkt ist die Situation bislang eine andere: Monopole oder hohe Markteintrittshürden sichern oftmals das Kerngeschäft ab, die europäische Konkurrenz wird auf Distanz gehalten. Das Verhalten der Staatsunternehmen ist betriebswirtschaftlich nachvollziehbar, die Verantwortlichen sitzen denn auch nicht in den Konzernzentralen im Schweizer Mittelland, sondern im Bundeshaus. Die Schweizer Europapolitik hat es zur Exzellenz gebracht, vom EU-Binnenmarkt zu profitieren, ohne selbst die eigenen Märkte zu öffnen. Das solches Gebaren in europäischen Hauptstädten immer häufiger als Rosinenpickerei angesehen wird, erstaunt nicht. So ist denn anfangs Jahr eine EU-Verordnung zu drittstaatlichen Subventionen in Kraft getreten. Schweizer Unternehmen, die Beihilfen erhalten und in der EU tätig sind, droht, dass sie künftig Übernahmen und die Teilnahme an Ausschreibungen speziell melden müssen.

Der subjektive Eindruck, wonach dem Drittstaat Schweiz weniger Ausnahmen als früher zugestanden werden, muss nicht verwundern. Erst recht nicht, seit sich das Gravitationszentrum der EU vor über 15 Jahren in den Osten verschoben hat, weg von unseren unmittelbaren Nachbarländern. Das Verständnis, auf die Schweizer Spezifitäten Rücksicht zu nehmen, hat sich generell verringert. Doch die SBB sind das falsche Beispiel, um dies zu illustrieren, es trifft aktuell die Medizintechnik und In-vitro-Diagnostik-Branche, nächstens die Maschinen- und Pharmaindustrie. Ihre Eintrittskosten in den Binnenmarkt sind bereits gestiegen oder werden dies bald tun. Wirtschaftlich geht es um weit mehr als die SBB.

Weiterführende Informationen finden sich im «Erosionsmonitor #4».