Vor einer Woche wurde in den USA eine neue Genetherapie zugelassen, die über 3 Millionen Dollar pro Dosis kostet. In der Schweiz beträgt der Preis für das teuerste Medikament, das je von den Krankenversicherungen übernommen wurde, Zolgensma, «nur» 2,1 Millionen pro Dosis. Beide Medikamente sind Gentherapie gegen seltene, schwerwiegende Erbkrankheiten. Zwar müssen die Entwicklungskosten solcher Medikamente auf eine geringere Anzahl von Patienten verteilt werden, da die Behandlung von Krankheiten immer spezifischer und damit die Patientenkreise immer kleiner werden. Aber sind mehrere Millionen Franken pro Dosis für ein Medikament, das ein Leben retten kann, (zu) teuer?
Ein objektives Mass für den therapeutischen Wert
Wenn ein neues Medikament zu einem fünf Jahre längeren Leben bei guter Gesundheit führt, während das Standardprodukt «nur» ein sechs Monate längeres Leben ermöglicht, ist der Unterschied offensichtlich: Für den Patienten hat das erstere einen höheren Wert. Eine zehnmal längere zusätzliche Lebenszeit sollte sich im Preis des neuen Medikaments widerspiegeln. Ähnlich verhält es sich, wenn eine einmalige Behandlung (mit einer einzigen Dosis) die Einnahme von Medikamenten über mehrere Jahre hinweg ersetzt. In solchen Fällen sollte der Preis der neuen Therapie auch die Einsparungen und den Komfort für den Patienten widerspiegeln, die sich daraus ergeben. Doch wie sollte das Preisverhältnis zwischen dem neuen und dem alten Medikament aussehen? (Ihre Meinung dazu interessiert uns: Beantworten Sie die beiden Fragen am Ende dieses Blogs.) Und welche objektiven Messgrössen können verwendet werden, um die Wirkung zweier Medikamente zur Behandlung derselben Krankheit zu vergleichen?
Ein im Gesundheitswesen häufig verwendetes Mass ist «die Zahl der qualitätsgewichteten geretteten Lebensjahre» (quality adjusted life years, Qaly). Dieses Mass ermöglicht es, den durchschnittlichen therapeutischen Wert eines Medikaments für eine Zielgruppe zu bestimmen. Es geht also nicht darum, im Einzelfall zu beurteilen, ob ein Medikament für eine bestimmte kranke Person den durchschnittlichen Nutzen bringt. Selbst wenn der Patient bereits sehr alt ist und das Medikament ihm de facto nicht die erhofften Qaly bescheren wird, kann er dennoch davon profitieren.
Trotz breiter Anwendung ist Qaly allerdings nicht für alle Arzneimittel geeignet. Schwierig wird eine Beurteilung des Medikamentennutzens mit Qaly etwa bei Gentherapien, die nur schwer mit einer alternativen Behandlung verglichen werden können, weil sie auf die individuelle DNA einwirken. Aber für breit angelegte Therapien bieten sie eine wissenschaftliche und objektive Vergleichsgrundlage.
Kann man einem Leben einen Preis geben?
Die Bestimmung des therapeutischen Werts ist nur ein erster Schritt. Ein Preisvergleich ist erst sinnvoll, wenn es eine Referenzbehandlung gibt, deren Preis bekannt ist. Bei Innovationen, die eine bisher unheilbare Krankheit behandeln, muss ein absoluter Wert in Franken für ein zusätzliches Lebensjahr definiert werden.
Den Wert eines Lebens zu bestimmen, mag aus ethischer Sicht fragwürdig erscheinen. In anderen Bereichen des öffentlichen Lebens ist dieser Ansatz jedoch üblich. So berechnet das Bundesamt für Raumentwicklung in der Schweiz jedes Jahr Richtwerte für Ausgaben, die das Risiko von Todesfällen im Strassenverkehr verringern. Auch die Gerichte sind regelmässig mit der Definition des Wertes eines Lebens (-jahres) konfrontiert, etwa bei der Beilegung von Haftpflichtstreitigkeiten nach einem tödlichen Unfall. In einigen Studien wird auch die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung für ein zusätzliches Lebensjahr ermittelt. Die Werte schwanken in der Schweiz zwischen 100’000 und 250’000 Franken pro Jahr bei guter Gesundheit (vgl. Abbildung).
Die Gesellschaft muss auch vom Mehrwert profitieren
Der therapeutische Mehrwert multipliziert mit dem Wert eines Lebensjahres beschreibt somit den volkswirtschaftlichen Wert einer neuen Behandlung. Die Pharmaindustrie sollte jedoch nicht die einzige Nutzniesserin dieses Mehrwerts sein. Sicherlich ist das Medikament für den Erfolg der Behandlung von entscheidender Bedeutung. Doch auch der Hausarzt, der die schwere Krankheit diagnostiziert hat, das Pflegeteam und die pflegenden Angehörigen sind entscheidend für das Wohlergehen und das Überleben des Patienten.
Daher muss eine gerechte Aufteilung des Mehrwertes der Behandlung zwischen dem Pharmaunternehmen und der Gesellschaft sichergestellt werden. Diese Aufteilung ist eine eminent politische Frage. Ein gutschweizerischer Fifty-Fifty-Kompromiss würde darin bestehen, 50% der Wertschöpfung jeder Partei zukommen zu lassen. Dafür müsste der Medikamentenpreis nur 50% des volkswirtschaftlichen Werts betragen. Die anderen 50% kämen de facto der Gesellschaft zugute. Denkbar wäre aber auch eine andere Aufteilung, zum Beispiel, um die Forschung für seltene Krankheiten zu fördern.
Eine Grundsatzdebatte ist notwendig
Zweifellos ist die Frage nach dem Wert eines Lebens (-jahres) eine sehr emotionale Angelegenheit. Für Kerstin Noëlle Vokinger, Rechtsprofessorin an der Universität Zürich, ist eine politische Diskussion über den Wert eines Lebens in der Schweiz jedoch nötig, «auch wenn es eine extrem schwierige Diskussion ist».
Ein pragmatischer Ansatz bestünde darin, in einem ersten Schritt eine Diskussion über die Methodik zu führen: Welche Parameter müssen berücksichtigt und in die Berechnung einbezogen werden? Zu denken wäre etwa an die Lebenserwartung bei Geburt, an das Wohlstandsniveau eines Landes oder an die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung.
Erst in einem zweiten Schritt wird ein öffentlicher Konsens über den Wert in Franken angestrebt, der sich aus der so definierten Methodik ergibt. Diese Definition des Werts eines Lebens würde für Medikamente, aber auch für andere Behandlungsformen oder Gesundheitsmassnahmen gelten.
Der Weg zur Definition dieses Wertes ist lang und steinig. Aber solange wir nicht definieren, wieviel die Gesellschaft für ein zusätzliches Lebensjahr zu zahlen bereit ist, werden Debatten über den «richtigen» Preis eines Medikaments oder einer medizinischen Leistung im Sand verlaufen. Es wird immer diejenigen geben, die im Frühling sagen, dass ein Leben unbezahlbar ist, aber im Herbst über die steigenden Krankenkassenprämien jammern.
Dieser Blog wurde am 4. Juli 2023 aktualisiert. Das Bundesamt für Raumentwicklung berechnet den Wert eines Lebensjahres bei guter Gesundheit auf 250'000 Franken.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in unseren Publikationen «Wann sind neue Medikamente zu teuer?» und «Mehr Mehrwert im Gesundheitswesen».