Von den über fünf Millionen Erwerbstätigen in der Schweiz sind nur knapp 15% Mitglied eines Arbeitnehmerverbands. Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer hat sich innerhalb von 50 Jahren auf rund 500’000 Mitglieder halbiert. Wenig vertreten sind die Gewerkschaften im Dienstleistungssektor, in dem fast 80% der Erwerbstätigen arbeiten. Dieser Sektor ist ein starker Prosperitätstreiber der Schweizer Volkswirtschaft seit dem Inkrafttreten der Bilateralen 2002. Dank mehr Exportvolumina stieg die Reallohnentwicklung jährlich um 1,1%. Rund 915’000 Beschäftigte profitierten 2019 direkt von der Nachfrage aus EU-Ländern.
Trotz dieser Vorteile der Schweizer Teilhabe am EU-Binnenmarkt knirscht es beträchtlich im politischen Gebälk, wenn es um die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen geht. «Bundesbern» hat sich bei der Frage des Rahmenabkommens in eine Sackgasse hineinmanövriert. Die Entscheidungsschwäche der Regierenden wird besonders evident, wenn der Lohnschutz zur schützenswerten Specie rara rund um das InstA hochstilisiert und zur «Lösungssuche» an die Sozialpartner delegiert wird. Auf Arbeitnehmerseite sind darin nur die Gewerkschaften vertreten, wichtige Berufsgruppen dagegen ausgeschlossen. Damit hat der Bundesrat jene Organisationen mandatiert, in der mehr als vier Fünftel der Beschäftigten gar nicht vertreten sind.
Die gewerkschaftliche Einbindung hat sich als europapolitischer Spaltpilz erwiesen. Der Lohnschutz gilt als sakrosankt, Abstriche an den flankierenden Massnahmen (FlaM) kommen nicht in Frage, die Weiterentwicklung der Bilateralen wird strikt abgelehnt. Nur: Die Zahl der von den FlaM betroffenen meldepflichtigen Entsender und Kurzaufenthalter ist gering: Sie machen gerade 0,7% der Schweizer Beschäftigung aus. Der gesamtwirtschaftliche Effekt der Entsendungen und Kurzaufenthalter auf Schweizer Löhne und Beschäftigung dürfte nahezu null sein.
Doch warum dieser gewerkschaftliche Widerstand bei der Weiterentwicklung der Europapolitik? Mit der 2004 im Zuge der Personenfreizügigkeit eingeführten FlaM ging ein Massnahmenbündel wie die Allgemeinverbindlichkeitserkärungen von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) einher. Tripartite Kommissionen, in der die Sozialpartner (und damit Gewerkschafter) Einsitz haben, kontrollieren die Einhaltung der Bestimmungen. Hunderttausende von Arbeitnehmern sind heute einem GAV unterstellt. Millionenbeiträge, alimentiert von den Lohnabzügen von Arbeitnehmern, fliessen jährlich in Gewerkschaftskassen, um die Einhaltung der GAV zu überwachen. Angesichts dieses gewerkschaftlichen Eigeninteresses hat die grosse Mehrheit der Arbeitnehmenden das Nachsehen.
Will man die Arbeitnehmer-Demokratie nicht vollends ad absurdum führen, ist die Sozialpartnerschaft neu zu definieren und die Arbeitnehmerschaft repräsentativer abzubilden. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sind aus den GAV zu streichen. Marktmechanismen müssen vermehrt wieder auf dem Arbeitsmarkt Einzug halten. Es liegt in der Hand der Politik, die Mitsprache der Gewerkschaften einzuschränken. Sie ist heute weder demokratisch noch repräsentativ legitimiert.
Dieser Beitrag ist unter dem Titel «Auf Kosten der Arbeitnehmer» am 15. April 2021 in der «Handelszeitung» erschienen.