Es ist kalt, die Heizungen laufen auf Hochtouren und mancherorts erhellt die Weihnachtsbeleuchtung die dunklen Winterabende. Business as usual? Nicht ganz. Zwar verkündete der Bundesrat vor kurzem, die Stromversorgungssicherheit der Schweiz sei im Winter 2022/23 nicht gravierend gefährdet. Noch kann sich die Lage wieder eintrüben, durch Ausfälle mehrerer französischer Kernkraftwerke oder durch eine längere Periode von sehr kalten Tagen. Dennoch: Die Gasspeicher in Europa sind gefüllt, knapp auf durchschnittlichem Niveau stehen die Speicherseen in der Schweiz – dies trotz des trockenen Sommers. Die Lage ist besser, als man es anfangs Herbst erwarten durfte. Sind wir also aus dem Schneider?

Die Stromversorgung bleibt labil

Nein, denn die Situation könnte sich in den nächsten Jahren wieder verschärfen. Drei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Erstens konnte in Europa bis in den Sommer hinein russisches Gas eingespeichert werden. Dies ist für die Stromproduktion wichtig. Angesichts der Kriegssituation, der Sanktionen und der Sabotage an der Pipeline North Stream 1 dürfte der Winter 2023/24 schwieriger werden. Ob Gas aus Herkunftsländern wie Norwegen oder das flüssige Erdgas (LNG) aus den USA, afrikanischen und arabischen Staaten die Lücke zu decken vermögen, ist nicht nur eine Frage der Zahlungsbereitschaft. Unerlässlich ist ebenso eine leistungsfähige europäische Infrastruktur, um das Gas aus den ankommenden Frachtern anzulanden. Die dafür bereitstehenden europäischen Kapazitäten sind knapp, in der EU werden deshalb seit Ausbruch des Ukraine-Krieges 26 neue Terminals geplant. Doch der Bau geeigneter Häfen benötigt Zeit.

Zweitens stellt die Vertiefung des EU-Binnenmarktes für Strom die Schweiz vor neue Probleme; als Drittland wird sie nicht in die Berechnungsprozesse der europäischen Netzkapazität einbezogen. So nehmen aufgrund des wachsenden Stromhandels innerhalb der EU die ungeplanten Stromflüsse in und durch die Schweiz zu; denn Elektrizität sucht sich den Weg des geringsten physikalischen Widerstands. Mit 41 Grenzkoppelstellen ist unser Land überdurchschnittlich stark mit den Nachbarn vernetzt, bei einem Stromhandel zwischen Deutschland und Frankreich fliesst deshalb ein Teil der Elektrizität durch die Schweiz. Es drohen Situationen, in denen Netzelemente in unserem Land überlastet werden. Um die Frequenz stabil zu halten und einen Blackout zu verhindern, muss die Netzbetreiberin Swissgrid immer öfters eingreifen. Dies erhöht die Stromkosten für den Standort Schweiz.

Das Preissignal des Energiemarktes wirkt. Energiesparen und Effizienzsteigerungsmassnahmen zahlen sich aus. (Thalia Ruiz, Unsplash)

Dringende Klärung des Verhältnisses zur EU

Gravierender als die ungeplanten Stromflüsse ist die anstehende, massive Beschränkung unserer Import- und Exportkapazitäten. Denn unsere Nachbarstaaten müssen bis Ende 2025 mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen. Die Schweiz als Nichtmitglied fällt unter die restlichen 30 Prozent. Selbst wenn z.B. Deutschland im Winter genügend Strom hätte, kann dieser allenfalls nicht in die Schweiz importiert werden.

Notwendig wären kurzfristig ein technisches, mittelfristig ein sektorielles Marktzugangsabkommen mit der EU. Doch seit dem Entscheid des Bundesrates vom Mai 2021, das institutionelle Abkommen nicht weiterzuverfolgen, ist eine Lösung in weite Ferne gerückt. Dabei liegt es nicht nur am ungelösten Verhältnis zur EU, sondern auch am inländischen Unwillen, die Hausaufgaben anzupacken: Für ein Marktzugangsabkommen mit der EU müsste die Schweiz vorgängig ihren Strommarkt vollständig öffnen. Ein Versprechen, das die Politik seit 2009 fortlaufend auf die lange Bank schiebt.

Produktion steigern – aber was ist mit dem Netzausbau?

Drittens stockt der einheimische Produktionsausbau, trotz millionenschwerer Förderung durch Instrumente wie Investitionsbeiträge oder die Marktprämie. Die – sich notabene mehrheitlich in staatlichen Händen befindlichen – Stromkonzerne investierten lieber im Ausland. Einheimische Bewilligungsverfahren dauern zu lange, da mehrfach Rechtsmittel gegen neue Stromproduktionsanlagen ergriffen werden können. Spät, aber immerhin, hat dies die Politik erkannt und will beispielsweise alpine Solaranlagen – die mit Millionenbeträgen gefördert werden sollen – rasch bewilligen. So soll bereits 2025 Gondosolar Strom an über 5000 Haushalte liefern. Ob dies auch mit Grengiols Solar gelingt, darf bezweifelt werden, denn das ungleich grössere Werk benötigt umfangreiche Investitionen ins Hochspannungsnetz. Selbst wenn in 2-3 Jahren die ersten PV-Panels im Wallis Strom produzieren sollten, wäre eine Versorgung von Unternehmen und Haushalten im Mittelland noch nicht sichergestellt. Heute dauert es aufgrund der Einsprachen im Durchschnitt 15 Jahre, bis eine neue Leitung in Betrieb genommen werden kann.

Das Preissignal als Lichtblick

Einen Lichtblick gibt es: Das Preissignal des Energiemarktes wirkt. Energiesparen und Effizienzsteigerungsmassnahmen zahlen sich aus. Der Effekt wird die Jahrzehnte währenden Kampagnen des Bundes – man erinnert sich an den eierkochenden Bundesrat Ogi – wohl um ein Vielfaches übertreffen. So liegt der Verbrauch von Gas unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Auch die höheren Preise für Elektrizität führen zu einer Anpassung der Nachfrage, spätestens wenn sich die Kostensteigerungen bei den Haushalten bemerkbar machen.

Einiges an der drohenden Mangellage liegt für die Schweiz jenseits ihrer Einflussmöglichkeiten und ist damit nicht steuerbar. Viele Ursachen sind aber auch hausgemacht und sollten nun endlich angepackt werden. Dazu gehören ein geregeltes Verhältnis zur EU, der technologieoffene inländische Ausbau der Stromerzeugung und -übertragung sowie Widerstand gegenüber populistischen Forderungen, in das Preisgefüge des Energiemarktes einzugreifen.

Dieser Wochenkommentar erschien in einer leicht gekürzten Fassung auch in der NZZ vom 05.12.2022.