Die warme Progression bewegt die Politik. Nachdem Avenir Suisse in zwei Studien das Ausmass dieser schleichenden Steuererhöhungen thematisiert hat, wurden verschiedene Parlamentarier aktiv: Beim Bund und in sechs Kantonen (BE, BL, GR, TG, ZG, ZH) wurden Vorstösse zum Ausgleich der warmen Progression eingereicht. Im Kanton Zürich läuft derzeit die Vernehmlassung für eine entsprechende Gesetzesänderung.
Box: Was ist die warme und kalte Progression?
Vielen dürfte bekannt sein, dass unser Steuersystem progressiv ausgestaltet ist. Das heisst, dass mit steigendem Einkommen überproportional mehr Steuern anfallen. Diese Ausgestaltung ist sozialpolitisch motiviert, wobei jeweils mit dem Prinzip der Leistungsfähigkeit argumentiert wird: Leistungsschwächere Individuen sollen durch Leistungsstärkere entlastet werden – eine Umverteilung wird angestrebt. So weit, so bekannt, doch auf lange Sicht hat dieses Vorgehen zwei unwillkommene Nebeneffekte.
Der eine ist die «kalte Progression». Sie entsteht durch Inflation: Die Löhne steigen, gleichzeitig verteuern sich aber auch Waren und Dienstleistungen. Mit dem höheren Lohn kann man sich deshalb nicht mehr leisten. Trotzdem führen die höheren Löhne dazu, dass Steuerpflichtige in höhere Progressionsstufen rutschen. Damit das nicht passiert, wird die kalte Progression von Bund und Kantonen in den Steuertarifen ausgeglichen – auf Bundesebene geschieht dies seit 2011 automatisch und jährlich.
Der zweite Effekt ist deutlich weniger bekannt: die «warme Progression». Sie ist Folge des technologischen Fortschritts. Da Innovationen uns alle produktiver machen, steigen über die Zeit alle Einkommen: Die Gesellschaft als Ganzes rutscht damit in höhere Progressionsstufen. Die Fiskalquote steigt somit langfristig automatisch – ohne dass sich jemand explizit dafür ausgesprochen hätte.
Der Mechanismus der warmen Progression ist für die Regierungen bequem, weil sie für diese versteckten Steuererhöhungen keine politischen Mehrheiten finden müssen. Diesen Joker möchten sie nicht einfach aus der Hand geben. Sie wehren sich deshalb gegen die Idee eines Ausgleichs, wie er bei der kalten Progression bereits heute üblich ist. Im Folgenden werden wir deshalb die gängigsten sechs Behauptungen entkräften.
1. «Nimmt der Reallohn zu, steigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ein überproportionaler Anstieg der Steuerlast – die warme Progression – ist darum verfassungskonform, denn per Verfassung gilt die Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit».
Ein progressives Steuersystem bedeutet, dass wer mehr verdient, auch einen grösseren Teil seines Einkommens ans öffentliche Wohl beisteuert. Dieses Prinzip der «wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit» wird politisch breit getragen. Daraus aber zu folgern, die warme Progression sei im Sinne der Verfassung, ist juristische Wortklauberei, die kaum dem Willen des Verfassungsgebers entspricht. Denn die Progressivität unseres Steuersystems zielt klar auf die Umverteilung zwischen Individuen (bzw. Haushalten) ab: Reichere Haushalte haben eine höhere Steuerquote als ärmere. Sie zielt nicht darauf ab, dass die Gesellschaft als Ganzes mit steigender Produktivität einen immer grösseren Teil des Einkommens dem Staat abliefern soll. Genau das passiert aber heute (vgl. Box).
Mit dem Ausgleich der warmen Progression kann dieser Effekt verhindert werden. Dabei wird nichts an der bestehenden Progression des Steuersystems geändert – jemand mit höherem Einkommen wird weiterhin gleich viel mehr zur Gemeinschaft beitragen wie jemand mit geringerem Einkommen.
Ein solcher Ausgleich ist – so schwierig das Phänomen der warmen Progression auch zu beschreiben ist – sehr einfach zu bewerkstelligen: Die Einkommensgrenzen der Steuertarife müssten neu an den Nominallohnindex statt wie bisher an den Konsumentenpreisindex (Ausgleich der kalten Progression) gekoppelt werden. Mit der Orientierung am Nominallohnindex ist gleichzeitig die warme (Reallohnanstieg) und die kalte Progression (Inflation) kompensiert.
2. «Der Nominallohnindex taugt nicht zum Ausgleich der warmen Progression, denn die steuerbaren Einkommen setzen sich nicht nur aus Löhnen zusammen.»
Vorab: Der Zweifel bezüglich Referenzgrösse, an der sich ein Ausgleich orientiert, kann kein grundsätzliches Argument gegen den Ausgleich sein. Das ist, als ob man das Zähneputzen ablehnen würde, nur weil man nicht weiss, welche Zahnbürste man am besten benutzen soll.
Aber lassen wir uns auf die Diskussion ein: Was wäre denn eine bessere Referenzgrösse? Es gibt andere Indizes zur Einkommensentwicklung: Lohndaten werden auch im Rahmen der Arbeitskräfteergebung (Sake) und der Lohnstrukturerhebung (LSE) publiziert. Will man die Einkommen umfassender berücksichtigen, wäre eine Orientierung an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) denkbar.
All diesen Grössen ist aber gemeinsam, dass ihr Wachstum normalerweise über jenem der im Rahmen des Lohnindexes (SLI) ausgewiesenen Nominallöhne liegt. Die Orientierung am Nominallohnindex wäre also die zurückhaltendste Variante zum Ausgleich der warmen Progression. Zudem ist der Nominallohnindex eine etablierte Grösse, die zuverlässig erhoben und z.B. schon zur Berechnung des AHV-Mischindexes verwendet wird – diese «Zahnbürste» hat sich also schon verschiedentlich bewährt.
3. «Die stabile Fiskalquote zeigt, dass der Kanton die warme Progression bisher zuverlässig über andere Steuersenkungen oder -reformen kompensiert hat.»
Mit pauschalen Steuerfusssenkungen oder einer Erhöhung oder Einführung bestimmter Abzüge kann man zwar dem Anstieg der Fiskalquote entgegenwirken, aber diese Massnahmen sind immer mit Umverteilungseffekten verbunden:
- Wird der steigenden Steuerlast durch eine Steuerfusssenkung – also eine proportionale, flächendeckende Reduktion der Steuerlast – entgegengewirkt, nimmt die Umverteilung von Reich zu Arm ab. Denn die warme Progression führt bei mittleren und niedrigen Einkommen zu einem grösseren prozentualen Anstieg der Steuerlast als bei den hohen. Der Anteil, den die einkommensstarken Haushalte an das Gesamtsteuervolumen beitragen, sinkt damit. Ohne jegliche Korrektur ist der Verteileffekt dieser Entwicklung unklar, da besagtes Gesamtsteuervolumen – zu dem die Reichen immer noch einen Grossteil beitragen – steigt. Wird nun aber der Steuerfuss so gesenkt, dass die Gesamtsteuerlast konstant bleibt, bleibt nur der erste Effekt übrig: Der Steuerlastanteil des Mittelstands steigt. Die Umverteilung sinkt.
- Werden hingegen neue Steuerabzüge eingeführt oder bestehende erhöht, profitiert spezifisch jene Bevölkerungsgruppe, die davon betroffen ist, während der Rest dafür aufkommt, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein.
Nur ein expliziter Ausgleich der warmen Progression hat keine zusätzlichen Umverteilungseffekte in die eine oder andere Richtung. Der Ausgleich ist also umverteilungstechnisch neutral.
4. «Der Ausgleich der warmen Progression führt zu deutlichen Mindereinnahmen im Kanton!»
Mit dem Ausgleich der warmen Progression ist kein rückwirkender Ausgleich gemeint. Er ist also mit keinerlei Steuersenkung verbunden. Gefordert wird vielmehr, dass Bund und die Kantone die Einkommensgrenzen ihrer Steuertarife von nun an gemäss dem Nominallohnwachstum statt gemäss der Inflation anpassen. Diese Massnahme führt nicht zu einer Reduktion des eidgenössischen, kantonalen (oder kommunalen) Budgets, sondern erlaubt bei einer florierenden Volkswirtschaft sogar weiteres Wachstum. Der Ausgleich der warmen Progression verhindert bloss, dass die Steuereinnahmen automatisch schneller wachsen als die Wirtschaft. Man kann deshalb nicht von «Mindereinnahmen» sprechen.
«Mindereinnahmen» sind es höchstens im Vergleich zum überproportionalen Anstieg der Steuerlast bei nicht ausgeglichener warmer Progression. Diesen zu verhindern ist ja genau Sinn und Zweck des Ausgleichs der warmen Progression. Wenn also solche «Mindereinnahmen» als Argument gegen den Ausgleich angeführt werden, beisst sich die Katze in den Schwanz.
5. «Der Ausgleich der warmen Progression ist nicht üblich.»
Ja, auch dieses Argument liest man in den Stellungnahmen. Doch was soll man bloss darauf antworten? Es war auch einmal nicht üblich, dass Frauen wählen durften. Das Argument ist inhaltsleer. Man verhindert pauschal jegliche Modernisierungen im Land – es ist damit sinnbildlich für die Reformunfähigkeit in vielen Politikbereichen heute.
6. «Durch einen automatischen Ausgleich der warmen Progression (…) bestünde ein geringerer finanzpolitischer Spielraum für Änderungen des Steuersystems beziehungsweise der Staatsaufgaben. Beispielsweise müsste bei der Umsetzung von Steuerreformen stärker als heute darauf geachtet werden, dass diese steuerneutral (…) erfolgen. Dies wiederum vergrössert die Anzahl der Verlierer einer Reform und somit die Wahrscheinlichkeit, dass diese im politischen Prozess scheitert.»
Mit genau diesen Worten hat die Regierung des Kantons Basel-Landschaft den Ausgleich der warmen Progression zur Ablehnung beantragt. Gewiss, diese Begründung ist inhaltlich nicht von der Hand zu weisen. Doch genau sie trifft den Kern des Anliegens.
Eine Änderung des Steuersystems hat immer Verlierer und Gewinner. Gewinner eines neuen Steuerabzugs sind jene, denen dieser zugutekommt. Verlierer sind die anderen. Nur merken diese anderen wenig davon, weil zur Finanzierung des Steuerabzugs meist keine explizite Steuererhöhung notwendig ist. Grund dafür ist die warme Progression: Die resultierenden Steuerausfälle sind durch die ihretwegen steigenden Steuereinnahmen sozusagen schon vorkompensiert. Würde die warme Progression ausgeglichen, würde eine Klientelpolitik durch spezifische Steuerabzüge erschwert, da diese plötzlich auch sichtbar Verlierer produzieren würde.
Gleiches lässt sich für den Ausbau von Staatsaufgaben sagen (die meist auch nur bestimmten Bevölkerungsgruppen zugutekommen): Wenn der Staat eine neue Aufgabe übernehmen kann, ohne seine Steuern zu erhöhen oder seine Ausgaben anderswo zu reduzieren, hat das oft einen Grund: die warme Progression. Er kann nämlich durch sie die zusätzlichen Ausgaben über die Zeit sozusagen schon vorfinanzieren. Mit einem kontinuierlichen Ausgleich der warmen Progression würde dagegen wieder allen klar werden: Neue Aufgaben erfordern zusätzliche Steuern – oder den Verzicht auf bisherige Aufgaben.
Den Vorteil schleichend steigender Steuerquoten geben Regierungen nur ungern her. Das spricht aber nicht gegen, sondern für den Ausgleich der warmen Progression. Denn dieser macht versteckte Finanzierungen und Zielkonflikte besser sichtbar und würde darum zu einer ehrlicheren und transparenteren Politik führen.