Dass Wirtschaftsprognosen mit Vorsicht zu geniessen sind, haben wir hier schon einige Male diskutiert, und zwar anhand der semesterweise aktualisierten Voraussagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Entwicklung des Bruttoinlandproduktes (BIP): Zuletzt 2020, mit interaktiven Grafiken, einmal allgemein noch ohne Auswirkungen der Pandemie und einmal als erste Covid-Zwischenbilanz, im Oktober. In jenen Blogs wurde anhand konkreter Beispiele verschiedener Länder dargestellt, wie drastisch die Realität von einer nur wenige Jahre zuvor gemachten Prognose abweichen kann und welche Interpretationen das zulässt.

Heute betrachten wir, wie sich diese Unterschiede über die Zeit und global kumulieren. Als Basis dafür dienen die IWF-Prognosen von April 2008 (damals wurden noch keine wesentlichen Auswirkungen der damaligen Finanzkrise auf Europa angenommen). Sie reichen bis 2013. Um daraus Werte für das Jahr 2021 zu erhalten, wurden die 2013-Werte Land für Land gemäss dem für die vorangehenden zwei Jahre prognostizierten Wirtschaftswachstum extrapoliert.

Das Resultat ist verblüffend: Der weltweite Wohlstand – gemessen am globalen BIP – lag 2021 satte 20% niedriger als 2008 prognostiziert worden war – also 13 Jahre zuvor. Die Bandbreite zwischen den 139 ausgewerteten Ländern[1] ist zudem enorm gross (vgl. Abbildung).

Hier einige Beispiele:

  • Während Äthiopien als Spitzenreiter heute auf 138% des 2008 prognostizierten Werts kommt, erreicht Libyen, das seit dem arabischen Frühling in bürgerkriegsartigen Zuständen versank, gerade einmal 14% der damals prognostizierten Wirtschaftsleistung.
  • Auf dem zweit- und drittletzten Platz folgen mit Jemen und dem Sudan zwei weitere Krisenstaaten. Andere «Failed States» wie Afghanistan, Irak, Syrien oder Venezuela sind auf der Liste schon gar nicht vertreten, da selbst der IWF sich nicht zutraut, hierzu Prognosen (oder nur schon Schätzungen für aktuelle Werte) abzugeben.
  • Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine blieb sehr weit hinter den Erwartungen von 2008 zurück – und das wohlgemerkt noch vor dem russischen Angriff. Der osteuropäische Staat kam 2021 bloss auf 44% der extrapolierten BIP-Prognose von 2008. Russland steht seinerseits allerdings mit einer Quote von 50% nicht viel besser da und befindet sich auf dem zehntletzten Platz der 139 Länder. Mit dem Krieg dürfte sich die Schere zwischen einstigen Prognosen und eingetroffener Realität nochmal weiter öffnen.
  • Griechenland schafft es auch ganz ohne Kriege auf nicht einmal die Hälfte der Wirtschaftsleistung, die aus der Prognose von 2008 für 2021 resultiert hätte. Die Finanz- und darauffolgende Schuldenkrise schlug immer tiefere Gräben in die griechische BIP-Entwicklung (vgl. Abbildung unten) – zuletzt noch vertieft durch die Covid-Krise. Dass der Wohlstand eines – notabene entwickelten – Landes auch ganz ohne äussere oder innere gewalttätige Konflikte derart in sich zusammenbrechen kann, ist erschreckend und sollte als Mahnmal für die Fragilität unseres Wohlstandes und entsprechend für die Wichtigkeit guter Wirtschaftspolitik dienen.
  • China mag in den letzten 20 Jahren einen Aufstieg sondergleichen erfahren haben, doch auch für das Reich der Mitte waren die Prognosen von 2008 deutlich zu optimistisch: Es kam 2021 nur auf 83% der Wirtschaftsleistung, die aus der extrapolierten 2008er-Prognose resultiert hätte. Die drastischsten Einbussen gegenüber einstigen Prognosen dürften zudem aufgrund der anhaltenden Schwierigkeiten rund um das krampfhafte Festhalten an einer Null-Covid-Politik erst noch folgen.
  • Spitzenreiter in Europa ist Irland, dessen zwischen 2015 und 2021 teilweise geradezu absurd hohe BIP-Wachstumsraten die Prognosen aus 2008 (trotz Finanz- und Covidkrise) noch deutlich übertrafen. Dieser BIP-Anstieg fand allerdings in erster Linie in den Büchern statt und spiegelt keinen tatsächlichen Wohlstandsanstieg in ähnlichem Umfang. Eindrücklich zeigt sich das an der Entwicklung der Konsumquote (Konsumausgaben in % des BIP): Sie sank seit 2013 von Werten um 60% auf nunmehr bloss noch 35%.
  • Mit 86% der 2008er-Prognose landet die Schweiz immerhin im vorderen Mittelfeld. Dies dank einer deutlichen Korrektur des IWF in den letzten Semestern: Zur Covid-Hochphase im Herbst 2021 wurde ihr noch ein niedrigerer Wachstumspfad bescheinigt (und von uns entsprechend kritisch kommentiert), dieser wurde seither – auch mit erheblicher Rückwirkung – vom IWF etwas nach oben korrigiert (vgl. Abbildung).

Summa summarum liegt der heutige globale Wohlstand bloss bei 80% des Wertes, der aus der extrapolierten 2008er-Prognose resultiert hätte – oder anders ausgedrückt: Jene Prognose hat den heutigen weltweiten Wohlstand um 25% überschätzt. In absoluten Zahlen formuliert: Das Welt-BIP liegt heute bei 95,5 Bio. $ statt bei 119,5 Bio. $. Nur 13 Länder sahen (etwas) mehr Wohlstandswachstum als 2008 erwartet. Die anderen 126 mussten gegenüber der Prognose (teilweise sehr hohe) Wohlstandseinbussen hinnehmen.

Hohes Aufsehen sollten diese Abweichungen beispielsweise im Kontext der wissenschaftlichen Literatur zur Prognose des Ausmasses von Klimaschäden – vor drei Wochen an gleicher Stelle diskutiert – erregen. Diese errechnet für ein Szenario ohne nennenswerten Klimaschutz Einbussen von 2% bis 23% des Welt-BIP gegenüber einem Szenario, in dem die Erderwärmung auf 1,5°C begrenzt werden kann – und zwar nicht etwa für die nahe Zukunft, sondern für das Jahr 2100.

Die Ausführungen in diesem Blog zeigen: Schon innert 13 Jahren können – ganz ohne Klimakatastrophe – 20% «verlustig» gehen. (Umwelt)ökonomische Prognosen für die fernere Zukunft sind daher schlicht viel zu unzuverlässig, als dass sie irgendwie handlungsanleitend sein könnten, denn: Prognostizierte Schäden in einer Bandbreite von 2% bis 23% des BIP für das Jahr 2100 sind angesichts der riesigen Prognosefehler, die schon für viel kürzere Zeiträume resultieren können, schlicht irrelevant.

Das heisst allerdings nicht, dass Klimaschutz unnötig ist. Es bedeutet bloss, dass man sich bei den Klimazielen nicht von solchen Zahlen leiten lassen sollte, sondern – wie schon im oben verlinkten Blog erwähnt – eher «schlicht» auf klimatologische Modelle abstützen sollte. Auch sie mögen mit grossen Unsicherheiten behaftet sein. Aber sie scheitern bestimmt weniger drastisch als die Versuche einer ökonomischen Monetarisierung.

[1] Ausgewertet wurden alle Länder mit über 1 Mio. Einwohner, für die die IMF Economic Outlook Databases (April 2008, April 2022) hinreichende Angaben haben. Verglichen wurden die inflationsbereinigten Werte für das BIP/Kopf in der Heimwährung. Die Aggregation der Schätzungen bzw. die Gewichtung der länderspezifischen Abweichungen zur Berechnung der Gesamtabweichung erfolgte über die aggregierten BIP der Länder gemessen in USD des Jahres 2021.