Jeder Schweizer Kanton kennt einen Mechanismus zur Korrektur der sogenannten kalten Progression. Doch nicht jeder Kanton kompensiert diese schleichende Steuererhöhung gleich effizient. Im neusten Avenir-Suisse-Freiheitsindex wurden erstmals die Unterschiede zwischen den Kantonen sowie dem Fürstentum Liechtenstein berücksichtigt. Die Grafik zeigt die Resultate unserer Untersuchung.
Was ist die «kalte Progression»?
Die kalte Progression ist ein Phänomen, das in einem Steuersystem mit progressiven Tarifstufen entstehen kann. Sie bezeichnet den Umstand, dass eine steuerpflichtige Person durch den Anstieg des nominellen Einkommens – etwa infolge von Inflation – in eine höhere Progressionsstufe rutscht und deshalb mit einem höheren Steuersatz belastet wird. Dies, obwohl sich das reale Einkommen nicht verändert hat. Es handelt sich somit faktisch um eine schleichende Steuererhöhung, die regelmässig mit einem Kaufkraftverlust einhergeht.
Das Problem der kalten Progression lässt sich eigentlich einfach lösen. Auf Bundesebene schreibt etwa Art. 39 des Bundesgesetztes über die direkte Bundessteuer (DBG) den Ausgleich der kalten Progression fest. Die Anpassung der Steuertarifstufen erfolgt auf Basis des Landesindexes der Konsumentenpreise (LIK) und wird jährlich automatisch durch das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) vorgenommen. Eine negative Teuerungsrate wird hingegen nicht unmittelbar ausgeglichen.
Entscheidungsmodus ist zentral
Einige Kantone kennen nur einen fakultativen Mechanismus zum Ausgleich (SH, NE, AI, SG). Ein gesetzlicher Automatismus ist jedoch aus Sicht der Steuerzahlenden einem fakultativen Entscheid klar vorzuziehen. Er entzieht das technische Problem der kalten Progression einer alljährlich wiederkehrenden und bisweilen politisierten Diskussion um immer dasselbe Problem.
Erstrebenswert ist ein möglichst zeitnaher Ausgleich der kalten Progression, weil eine zu späte Korrektur immer Umverteilungen bewirkt. Tatsächlich nehmen fast alle Kantone mit Ausnahme von Genf und Zürich diese Anpassung jährlich vor. Die Republik am Lac Léman beobachtete die Teuerung bis anhin jeweils ganze vier Jahre lang. Seit Beginn dieses Jahres ist sie jedoch ebenfalls auf ein jährliches Intervall umgeschwenkt. So verzichtet einzig der Kanton Zürich auf eine jährliche Anpassung. Er korrigiert die Steuertarifstufen alle zwei Jahre, jeweils zu Beginn der eigenen Steuerfussperiode. Derzeit ist eine parlamentarische Initiative hängig, die dies ändern will.
Automatischer, alljährlicher Ausgleich, aber unvollständig …
Sieben Kantone kennen nur einen teilweisen Ausgleich der kalten Progression (AI, BE, FR, OW, SG, SH, SZ). Auch dies bedeutet nichts weniger als eine schleichende und stete Steuererhöhung durch die Hintertür. Nicht zu überzeugen vermag in diesem Zusammenhang das Argument, der nur teilweise Ausgleich der kalten Progression schaffe finanzpolitische Spielräume. Sofern dies erwünscht ist, sollen sie im Rahmen demokratischer Entscheide geschaffen werden.
Ferner ist nicht einsichtig, weshalb die kalte Progression erst ab einem gewissen Schwellenwert der Inflation ausglichen werden sollte. So müssen die Behörden in gewissen Kantonen die kalte Progression erst bei einer sehr hohen Inflation von 7% (OW, SH) oder gar 10% (AI) überhaupt genauer überprüfen. Zu bevorzugen ist ein einfacher – d.h. jährlicher und automatischer – Ausgleich, was Schwellenwerte hinfällig macht. Die Kantone unterscheiden sich auch darin, welche Staatsgewalten über einen Ausgleich entscheiden: Wenn schon kein obligatorischer Ausgleichsmechanismus vorgesehen ist, wäre die Legislative als Instanz der Exekutive vorzuziehen.
Mehr Fairness mit geringem Aufwand
Einen optimalen Korrekturmechanismus kennen somit nur die Kantone Waadt, Basel-Landschaft, Zug und Uri. Alle anderen Kantone könnten ihre Steuersysteme ohne allzu grossen Aufwand fairer gestalten. Im Vergleich zum Ausland stehen die Schweizer Kantone jedoch insgesamt gut da. Nur schon unser nördlicher Nachbar kann sich zu keinem Mechanismus durchringen. Die Diskussion muss in Deutschland immer wieder von neuem geführt werden – bis anhin ohne nennenswerte Ergebnisse.
Im Avenir-Suisse-Freiheitsindex wird überdies auch das Fürstentum Liechtenstein berücksichtigt. Dort existiert zwar ein Gesetzesartikel zum Umgang mit der kalten Progression, dieser ist aber denkbar lau ausgestaltet. Weder vollständig noch alljährlich, sondern fakultativ und erst ab einem Schwellenwert von satten acht Prozent Inflation soll die kalte Progression ausgeglichen werden. Im Währungsraum des Schweizer Frankens ist somit das Fürstentum Liechtenstein der einzige krasse Ausreisser ohne griffigen Mechanismus. Die neuste Ausgabe des Avenir-Suisse-Freiheitsindexes wurde deshalb sogleich in einem entsprechenden Vorstoss für einen besseren Ausgleich der kalten Progression aufgenommen, wie vergangene Woche bekannt wurde.
Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie im «Avenir-Suisse-Freiheitsindex» und in der Studie «Warme Progression».