Diese Woche präsentierte sich der Bevölkerung Schweizer Regierungskunst vom Feinsten. Während der Bundesrat nach siebenjährigen Verhandlungen den Rahmenvertrag mit der EU unter Anführung von souveränitätspolitischen Argumenten mit deutlichen Worten brüsk beerdigte, scheute die gleiche Regierung vor einer klaren Stellungnahme und der Ergreifung von Massnahmen gegenüber dem weissrussischen Diktator zurück – trotz der massiven Gefährdung der europäischen Zivilluftfahrt und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen. Und bereits plant der Bundesrat seine nächsten Reisen, aber nicht zu unserem wichtigsten Partner nach Brüssel, sondern einmal mehr ins kommunistische China.

Der wirtschaftspolitisch interessierte Bürger reibt sich angesichts solcher Prioritätensetzung die Augen, sind doch die Handelsbeziehungen zwischen dem Reich der Mitte und der Schweiz fast um den Faktor 8 kleiner als jene zwischen der Schweiz und der EU-27. Die europapolitische Strategielosigkeit des Bundesrates offenbarte sich an der Medienkonferenz besonders frappant bei der Justizministerin, die stolz ankündigte, dass ihr Departement Unterschiede zwischen der schweizerischen Rechtsordnung und dem EU-Recht identifizieren werde. Nur: Die Prüfung der Europaverträglichkeit des schweizerischen Rechts ist seit Jahrzehnten allgemeingültige Rechtsetzungsmaxime auf Bundesebene.

Der Souverän wird nicht gefragt

Dem Souverän soll zugleich zu der seit Jahrzehnten wohl gewichtigsten Sachfrage die Stimmabgabe verwehrt bleiben. Überzeugende Handlungsalternativen nach dem Nein zum InstA legt der Bundesrat nicht vor, um aus der vom ihm selbstverschuldeten europapolitischen Sackgasse herauszukommen. Stattdessen dominiert strategische Konzeptlosigkeit. Von Befürwortern des Rahmenabkommens angeführte Lösungsansätze – wie etwa die Lancierung einer Volksinitiative – entfalten ihre Wirkung nur zeitverzögert und vermögen die Erosion kaum aufzufangen. Auch die Gegner des Rahmenabkommens lassen klare Vorstellungen vermissen, wie die europapolitische Reise nun weitergehen soll. Klar scheint vorab nur eines: Der unbedingte Anspruch auf helvetische Autonomie wird in einer ersten Phase mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden sein. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt wird für viele Branchen sukzessive schwieriger, Investitionen am Standort Schweiz verlieren an Attraktivität, und die Umsetzung der Energiestrategie 2050 wird ohne die europäischen Partner kostspieliger.

Den Weg bewusst definieren

Dennoch: ein Blick in die nächste Geländekammer tut not. Um die Prosperität zu erhalten, ist die Schweiz nun gefordert, eigenständig eine neue Vorstellung über ihre Zukunft zu entwickeln – mit beherzten Reformen im Innern, aber auch in Bezug auf ihr aussenwirtschaftliches Verhältnis zu Europa und dem Rest der Welt. Allein ein stolzer Blick zurück auf die Errungenschaften des Landes und das Verwalten des Erreichten sichert den Wohlstand nicht. Vielmehr ist ein Blick nach vorne notwendig.

Den Regierenden sei dazu der Griff zum «Weissbuch» von Avenir Suisse empfohlen (bereits 2018 veröffentlicht). Vor- und Nachteile von sechs Szenarien der Europapolitik werden darin ökonomisch fundiert dargestellt, vom selbstbestimmten Rückzug bis hin zu einem EU-Beitritt. Es gilt, eine konkrete Vorstellung über die Zukunft unseres Landes zu entwickeln, nicht zuletzt angesichts der pandemiebedingten Disruptionen, aber auch infolge der geostrategischen Verschiebungen mit dem sich akzentuierenden Konflikt zwischen den USA und China. Die routinemässige Veröffentlichung eines Verwaltungsarbeitsprogramms alle vier Jahre mit dem spröden Titel «Legislaturplanung» reicht dazu nicht mehr aus.

Handeln auf mehreren Ebenen

Aus marktwirtschaftlich-liberaler Sicht ist offenkundig, in welche Richtung die Reise gehen sollte. Einerseits sind die überfälligen Reformen im Inland zügig einzuleiten, etwa mit weitgehenden Deregulierungen und einem Abbau der Verwaltungsbürokratie, der Teil- oder Vollprivatisierung von kostenintensiven staatlichen Bastionen im Bereich des Service public (Betriebe in Bundes- und Kantonsbesitz), einer raschen Sanierung der Sozialwerke, der Rückführung der Subventionen der Landwirtschaft auf europäisches Niveau oder auch einem unilateralen Abbau der Importzölle.

Vordringlich anzugehen ist die Re-Liberalisierung des Arbeitsmarktes, einem der Schlüsselfaktoren in der schweizerischen Erfolgsgeschichte. Die heutige Sozialpartnerschaft gilt es zu überprüfen (indem nicht mehr Gewerkschaftsfunktionäre, sondern reale Repräsentanten der Arbeitnehmerschaft Einsitz nehmen), und die heutige Ausgestaltung der flankierenden Massnahmen kritisch zu hinterfragen (diese verfälschen den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und verkommen immer mehr zu einem Deckmantel für Protektionismus und einem staatlichen Lohndiktat). Ebenfalls sollten endlich die Flexibilisierung des Arbeitsrechts (als Antwort auf die digitalen Arbeitswelt) sowie eine weitergehende Öffnung des Arbeitsmarktes angegangen werden, um Talente aus dem Ausland anzuziehen.

Aussenwirtschaftspolitisch wird der Bundesrat um eine Weiterentwicklung des Bilateralismus mit der EU nicht herumkommen – und zwar auf einer dynamischen Grundlage. Ökonomisch gibt es keine gleichwertige Alternative. Das derzeitige bundesrätliche Beharren auf dem Status quo führt mittelfristig zu einem Status minus, zur schleichenden Erosion. Zugleich braucht die Schweiz Zugänge zu weiteren Absatzmärkten und Handelspartnern ausserhalb des europäischen Binnenmarktes, darunter insbesondere die USA. Die Potenzialoptimierung kann aber nur durch den Abschluss neuer Freihandelsverträge gelingen. Das zögerlichen Vorgehen des verantwortlichen Bundesrats, das fast einem Treten an Ort gleichkommt, sollte einem raschen Schrittwechsel weichen, ist er doch massgeblich mitverantwortlich für die derzeitige europapolitische und aussenwirtschaftliche Blockade.

Welche Souveränität?

Letztlich muss aber eine ehrlichere Diskussion hierzulande geführt werden, dass mit der bisherigen wirtschaftlich äusserst erfolgreichen Teilhabe am europäischen Binnenmarkt auch ein gewisser Souveränitätstransfer einhergeht, bisher wurde dieser vom Schweizer Souverän stets direkt-demokratisch legitimiert. Wer hingegen am Anspruch auf absolute Souveränität festhält (mit umfassender Selbstbestimmung und nationaler Autonomie), betreibt bis zu einem gewissen Grad Realitätsverweigerung gegenüber dem bilateralen Weg, den die Schweiz die letzten zwanzig Jahre gegangen ist. Und da in europapolitischen Sachfragen stets das Volk das letzte Wort hat, werden weder der Bundesrat noch gewerkschaftliche und national-konservative InstA-Gegner den Souverän auf Dauer aussen vorlassen können.