Um die Attraktivität eines Kantons für Unternehmen zu messen, gibt es verschiedene Indikatoren. Als grobes Indiz kann die Zu- und Abwanderung in andere Kantone gelten. Denn als letzten Schritt gibt es immer die «Abstimmung mit den Füssen». Dies ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Disziplinierung der Kantone im föderalen Standortwettbewerb.

2022 erschien der Kanton Thurgau als neuer «Unternehmensmagnet». Ihm ist es gelungen, den Kanton Wallis bei der Anzahl Neuzugängen (269) – im Vergleich zum letzten Jahr – zu überholen und in der Nettobetrachtung (+87) hinter sich zu lassen. Gemäss der Wirtschafts-Dienstleistungsorganisation Crif stammt der Zuwachs des Thurgaus insbesondere aus den Kantonen Zürich (86) und St. Gallen (80). Dahinter liegen die Kantone Wallis und Graubünden fast gleichauf. Sie verzeichnen eine Nettozuwanderung von 71 bzw. 70 Unternehmen im Jahr 2022.

Relativ besticht der Kanton Appenzell-Innerrhoden

Zieht man den Unternehmensbestand hinzu, zeigt sich ein anderes Bild. So ist der Zuwachs gemessen am Bestand im Kanton Thurgau zwar noch immer wesentlich. Jedoch gelang es dem Kanton Appenzell-Innerrhoden am besten, seine kleine Anzahl von rund 1200 aktiven Unternehmen auszubauen. Der minimal kleine Verlust des Kantons Waadt von genau einem Unternehmen verschwindet in der schieren Grösse des Firmenbestands von mehr als 50’000 aktiven Unternehmen.

Insgesamt ist die Mobilität gemessen an der Gesamtzahl der Firmen erstaunlich gross. Von den rund 600’000 Schweizer Unternehmen haben im letzten Jahr 42’000 ihren Hauptsitz verlegt (7%), davon 17 Prozent jeweils in einen anderen Kanton. Insgesamt haben somit rund 7000 Unternehmen die kantonale Zugehörigkeit gewechselt.

Realität versus Wunschdenken

Dem Kanton Zürich mangelt es bekanntermassen nicht an Selbstbewusstsein. Vor dem Hintergrund der Unternehmensabwanderungen ist das aber nicht gerechtfertigt. Absolut gesehen verliert er mit Abstand am meisten Unternehmen und ist damit der «Unternehmens-Auswanderungskanton». Dies bereits zum wiederholten Mal. Insgesamt haben 1356 Firmen den Kanton Zürich verlassen – und mit ihnen 7800 Arbeitsplätze. In der Nettobetrachtung fällt das Bild mit einem Verlust von 137 Unternehmen etwas weniger drastisch aus, doch sind dies noch immer mehr, als die Kantone Bern und Genf zusammen verzeichnen mussten.

Die Abwanderung aus Bern passt ins Bild: Noch vor Zürich ist Bern der «Kanton mit den höchsten Gewinnsteuersätzen». Die meisten Unternehmen verlor der Kanton Zürich an die direkten Nachbarkantone Zug (322), Aargau (196) und Schwyz (191). Dem Kanton Bern gingen die Firmen zugunsten von Solothurn (70) und Zug (45) verlustig.

«Innovationskraft» besteht Realitätstest nicht

Vielleicht wäre all dies vernachlässigbar, wenn Bern und Zürich bei den Neugründungen von Unternehmen hohe Zahlen verzeichnen könnten, aber auch dort schneiden der «Wirtschaftsmotor der Schweiz» und der «Berner Bär» unterdurchschnittlich ab. Ferner kann auch ihre Innovationskraft das Manko nicht kompensieren. So stellt sich der Kanton Zürich selbst eine schlechte Note aus: Innert acht Jahren verlor er im selbsterstellten Innovationsranking mehr als 30 Ränge und fliegt aus den oberen 20 Prozent der 250 «innovativsten Regionen Europas». Zwar führt der Kanton Zürich europaweit bei den Innovationsausgaben pro angestellte Person, aber dies schlägt sich nicht im interkantonalen Standortwettbewerb um Unternehmenssitze nieder.

Das hat auch mit der sich stark ausbreitenden Bürokratie zu tun. Der am schnellsten wachsende Sektor ist jener der öffentlichen Hand. So wächst die Verwaltung der Wirtschaft davon. Erstere gleicht vermehrt einer Art «Sonderzone» und lockt mit etlichen Spezialzulagen und überdurchschnittlich hohen Löhnen.

Ein anders Bild zeigt sich in der Innerschweiz. Sie zeichnet sich durch eine relativ geringe Steuerbelastung und mehrheitlich massvolle kantonale Staatsquoten aus. Nicht von ungefähr stellt die Innerschweiz mit den Kantonen Zug und Schwyz die beiden Spitzenreiter im ökonomischen Teil des Avenir-Suisse-Freiheitsindex.

Zürich und Bern müssen sich wieder dem Wettbewerb stellen

Insbesondere die beiden bevölkerungsstarken Kantone Zürich und Bern sollten vermehrt an der Verbesserung der Rahmenbedingungen arbeiten. Natürlich besitzen beide Kantone eine Art «Zentrumsprämie»; d.h. durch ihre Bevölkerungsdichte ergibt sich kulturelle Attraktivität. Kurz: Steuersubjekte reagieren in städtischen Regionen weniger sensibel auf höhere Steuern. Die Schmerzgrenze wurde mittlerweile jedoch in beiden Kantonen überschritten. So ziehen nicht nur Unternehmen, sondern auch vermögende Personen vermehrt in Kantone mit einem besseren Attraktivitätsmix.

Mit der jüngsten Annahme der OECD-Mindeststeuer von 15 Prozent entsteht weiterer Handlungsdruck für die beiden Grosskantone. Durch die bereits bestehenden hohen Steuersätze erhalten sie bei der Umsetzung der Vorlage keinerlei Mehreinnahmen. Die Kantone mit Steuersätzen unterhalb des neuen Mindestwerts profitieren hingegen von drei Vierteln der vom Bund erhobenen Ergänzungssteuer. Abgesehen von der finanzpolitisch fragwürdigen Abschöpfung des letzten Viertels durch den Bund generieren mutmasslich 18 Kantone Mehreinnahmen. Diese wollen sie grösstenteils in ihre Standortattraktivität investieren. Gewiefte Kantone planen zudem bereits, den eigenen Gewinnsteuersatz so anzupassen, dass die Ergänzungssteuer komplett entfällt. So können sie die gesamten durch die Steuererhöhung generierten Mehreinnahmen für sich behalten. Weder dem Kanton Zürich noch dem Kanton Bern sind solche Tricks oder Investitionen möglich. Bei der Umsetzung der Steuerreform gehen sie leer aus.

Beide Kantone haben erhebliches Potenzial zur Stärkung ihrer Standortqualitäten. Während der Kanton Bern sich um seine ökonomischen Freiheiten bemühen sollte, gilt es im Kanton Zürich, der sich rasant ausbreitenden öffentlichen Hand und der damit einhergehenden Regulierungs- und Verbotskultur Einhalt zu gebieten. Beiden ist gemein, dass sie ihre Steuerschrauben lockern sollten. Um einen weiteren Unternehmensexodus zu verhindern, braucht es den Willen und vor allem auch den politischen Ehrgeiz, an der Schweizer Spitze mitzuspielen. Verwalten allein genügt dazu nicht.

Weiterführende Informationen finden Sie in der Studie Der Löwe im «Sleep Mode» oder im Avenir-Suisse-Freiheitsindex.